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Trügerische Normalität
Lwiw liegt im Westen der Ukraine, weit entfernt von den Kämpfen im Osten. Dennoch ist die Stadt Ziel russischer Angriffe
Der Angriffskrieg Russlands hat das Leben in Lwiw, einer der wichtigsten kulturellen und touristischen Städte des Landes, komplett verändert. Zwar war Lwiw, das in den Normalzeiten etwas mehr als 700 000 Einwohner zählt, auch durch die russische Annexion der Krim sowie den Krieg im ostukrainischen Donbass indirekt von dem Krieg betroffen - vor allem durch die vielen Geflüchteten, die auf einmal tief im Westen des Landes auftauchten, oft ohne diesen vorher jemals besucht zu haben. Doch »psychologisch war der 24. Februar eine totale Wende«, meint der Lwiwer Politologe Taras Rad. »Früher waren wir im fernen Hinterland, und der Krieg im Osten fühlte sich weit weg an. Wir bleiben auch jetzt das Hinterland. Aber schon am Morgen des Kriegsbeginns wurde unser Bezirk beschossen, wie auch andere Bezirke im Westen. Die Luftabwehr funktionierte gut, doch es wurde klar: Es ist ernst. Das wollte man sich vorher nicht vorstellen.«
Stanislaw Besuschko, der am Krieg im Donbass teilgenommen hatte und im Februar mit einer schnellen Einberufung rechnete, hat Lwiw am Beginn der russischen Invasion als ziemlich chaotisch empfunden. »Die Menschen standen unter Schock und waren auf den Krieg kaum vorbereitet. Für mich aber war das keine Überraschung.« Besuschko ist Reservist bei der Nationalgarde, hat aber noch keinen Platz angetragen bekommen, um an den Kämpfen teilzunehmen. Deswegen geht er vorerst weiter seinem Job als Moderator beim Lokalfernsehen nach. Gute Informationsarbeit sei gerade am Anfang wichtiger gewesen, als auf einem Truppenübungsplatz festzusitzen, meint er. »Es dauerte rund eine Woche, bis sich die Lage wieder stabilisierte und Restaurants etwa, die am Anfang nur für die Armee kochten, schrittweise wieder für alle öffneten.« Doch als eine militärische Einrichtung in der Nähe der polnischen Grenze angegriffen wurde, hätten viele Menschen die Stadt wieder verlassen. Mittlerweile wurde Lwiw mehrere Male beschossen. Diese Angriffe gehörten inzwischen zur neuen Normalität dazu, erzählt er.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Gerade in den ersten Kriegstagen haben viele Menschen über Lwiw die Ukraine verlassen. Der Bahnhof war komplett überfüllt, dort herrschte Chaos. Zum einen wurden Soldaten Richtung Front geschickt; zum anderen war Lwiw eine Drehscheibe für Binnenflüchtlinge, die oft keine Habseligkeiten mehr hatten. Zwischen 40 000 und 60 000 Menschen versuchten, einen der wenigen Plätze im Zug zu ergattern. »Die erste Woche haben wir nur dank der Freiwilligen durchgehalten«, meint Politologe Rad. »Das ist kein Vorwurf an die Stadt oder an den Bezirk - auf einen solchen Menschenstrom kann man gar nicht vorbereitet sein.« Zur unübersichtlichen Situation am Lwiwer Bahnhof kam hinzu, dass sich auch an den Orten entlang der polnischen Grenze bis zu 150 000 Menschen befanden. »Es dauerte natürlich, bis man sich auf die Situation eingestellt hatte«, sagt Rad. »So viele Biotoiletten konnte man nicht auf einmal aufstellen, zudem war ja noch Winter. Aber nach einer Woche normalisierte sich die Lage.«
Mittlerweile werden die Binnenflüchtlinge im Bezirk Lwiw auf die Kommunen verteilt, der Einsatz von Freiwilligen ist nicht mehr so dringend. Ljana Myzko, Musikerin und Direktorin des 2020 geschaffenen städtischen Kulturzentrums, hat sich von Anfang an für die Geflüchteten eingesetzt. Seit Kriegsbeginn organisiert das Zentrum in der Innenstadt mehr als zehn Veranstaltungen pro Woche, darunter auch kunsttherapeutische für gerade Angekommene oder Ausstellungen mit geflohenen Künstlern. »Unser Zentrum haben wir als Anlaufstelle für rund 400 Personen genutzt. Wir mussten Passierscheine für die nächtliche Ausgangssperre organisieren, um Menschen vom Bahnhof abzuholen. Dann haben wir gemeinsam geschaut, wo sie untergebracht werden können«, erzählt Myzko. »Zwei Wochen lang habe ich kaum geschlafen, und wenn doch, dann bei uns im Zentrum. Das war natürlich anstrengend. Sätze wie: ›Während der Flucht haben wir nach hinten geschaut und gesehen, wie eine Rakete unser Wohngebäude zerstört‹, habe ich oft gehört. Aber normal werden sie dadurch kaum.«
In dem Café des Kulturzentrums arbeitet der Barista Witalij aus der Kiewer Vorstadt Butscha, die durch die verstörenden Bilder nach dem Abzug der russischen Truppen bekannt geworden ist. Mit seinen fünf Kindern im Auto konnte er im ersten eröffneten Fluchtkorridor am 9. März Butscha verlassen, vorher saß er rund eine Woche überwiegend im Keller - was nicht zuletzt wegen der Kinder schwierig war. »Zum Glück kenne ich niemanden persönlich, der umgebracht wurde«, sagt der ruhige Mann. »Aber was wir gesehen haben, war eigentlich auch schon mehr als schlimm.« Für Ljana Myzko sind das Schicksale, die ihr Leben täglich begleiten. »Mir geht es aber den Umständen entsprechend gut, obwohl ich stets das Gefühl habe, nicht genug zu tun.«
Lwiw ist eine surreale Stadt geworden. Mehrmals hat das russische Militär Infrastruktur- und militärische Objekte beschossen. Zuletzt wurde die Eisenbahninfrastruktur in der Region beschädigt, vermutlich, um Waffenlieferungen und Truppenverlegungen der ukrainischen Armee zu erschweren. Eine russische Rakete traf auch eine Reifenmontage - sieben Menschen sind dabei ums Leben gekommen, ein dreijähriges Kind wurde verletzt.
Während jetzt in der Ukraine Kriegsrecht herrscht, bewegen sich Soldaten und Polizisten meistens mit Waffen in der Stadt, gleichzeitig werden Luftalarme in der Innenstadt von vielen ignoriert, und die meisten Cafés haben trotzdem weiterhin geöffnet. »Es ist wichtig, dass die Stadt lebt, auch aus wirtschaftlicher Sicht«, sagt Stanislaw Besuschko.
Für Anastassija Kika ist die Stimmung jedoch etwas störend. »Ich wohne fast am Marktplatz, und hier feiern die Leute irgendwie immer. Es gibt welche, die sich immer noch wie zu Zeiten der touristischen Saison verhalten«, sagt die Frau in ihren späten Zwanzigern, die in der Beauty-Branche arbeitet. »Es muss ja nicht sein, dass die Leute aus Solidarität mit den Opfern ihr Leben, ihre Normalität komplett aufgeben. Doch wenn in der Kirche neben einer Bar gestorbene Soldaten verabschiedet werden, fühlt sich das falsch an, wenn Leute feiern.« Kika wuchs in Sewastopol auf, hat in den letzten Jahren aber in Kiew gelebt. Am zweiten Kriegstag ist sie zusammen mit ihrem aus Lwiw stammenden Mann 27 Stunden lang zu ihren Schwiegereltern gefahren.
»Natürlich haben wir viel darüber nachgedacht, ob wir wieder öffnen sollten«, meint Ljana Myzko von dem Kulturzentrum. »Wir stellten uns aber nicht die Frage, ob wir in einer Bar Alkohol verkaufen oder nicht, sondern wir sind ja eine Kultureinrichtung. Und Kultur spielt bei allen Kriegen eine wichtige Rolle.« Kultur könne Menschen einen Halt geben, weil sie Teil einer verlorenen Normalität sei, und sie könne therapeutisch wirken. »Daher war uns klar, dass wir so schnell wie möglich wieder arbeiten sollten.«
Myzko findet es bemerkenswert, wie die ukrainische Kultur auf den russischen Angriffskrieg reagiert habe. Während vor dem 24. Februar die ukrainischen Charts noch von russischem Pop dominiert wurden, sind nun ukrainischsprachige Lieder an der Spitze, die meisten Songs wurden erst nach Kriegsbeginn aufgenommen.
Vor allem in den sozialen Medien gab es in den ersten Kriegswochen Diskussionen darüber, dass einige Binnenflüchtlinge Russisch sprachen. Manchmal kann man auch jetzt noch Russisch auf den Straßen Lwiws hören, aber nur noch selten. »Es gibt natürlich eine Minderheit, die sich darüber aufregt, doch sie ist halt einfach laut«, meint Stanislaw Besuschko dazu. »Den allermeisten ist sowieso klar, dass es jetzt nicht an der Zeit ist, Sprachfragen zu klären. Jetzt gibt es ohnehin einen weitgehenden Konsens, dass man mehr Ukrainisch sprechen sollte, doch das wird natürlich nicht immer gleich befolgt.« Auch der Politologe Taras Rad sieht einen Konflikt, misst ihm aber nicht viel Bedeutung zu: »Wenn jemand in einem teuren Auto laut russischsprachige Musik hört, kann das halt einige stören.« Früher sei das auch schon so gewesen.
Auch Taras Rad besinnt sich auf eine ukrainische Identität zurück. Zusammen mit drei Kollegen hat er eine Initiative zur Straßenumbenennung in Lwiw gestartet. Mehr als 30 Straßen, die nach Russen benannt wurden, sollen neue Namen bekommen. Etwa 30 weitere stehen auf einer »Reserveliste«. Ähnliche Initiativen gibt es auch in Uschgorod, Iwano-Frankiwsk und Kiew. In den nächsten Wochen soll es dazu erste Entscheidungen im Lwiwer Stadtrat geben. Über einige Straßen wird vermutlich noch lange diskutiert werden. »Ich bin kein Unterstützer des Konzepts der Nulltoleranz zur russischen Kultur. Wir verstehen, dass es Personen gibt, die zum Kulturerbe der gesamten Welt gehören«, erklärt Rad. »Uns geht es weniger um Derussifizierung, sondern mehr um Dekolonisierung. Die Puschkin-Straße ist beispielsweise ein Erbe der sowjetischen Ära, in der die russische Kultur als privilegiert und andere Kulturen wie die ukrainische oder die belarussische als provinziell galten.« Der Schriftsteller Puschkin habe vermutlich gar nicht gewusst, dass seine Kunst für die russische Expansion benutzt wurde, mutmaßt Rad. »Doch was hat Puschkin mit Lwiw und der Ukraine zu tun?«, fragt er.
Wie überall in der Ukraine geben sich die Menschen in Lwiw siegessicher - laut Umfragen glauben mehr als 90 Prozent der Ukrainer an einen Sieg gegen Russland. Was unter einem Sieg aber gemeint ist, bleibt unklar. »Ich bin ein Pragmatiker«, sagt Taras Rad. »Die Frage der Krim sollte nicht militärisch gelöst werden. In Donezk und Luhansk sehe ich Optionen, bin aber kein Militärexperte. Sonst würde mir die Wiederherstellung der faktischen Grenze von vor dem 24. Februar reichen«, meint der Politologe. Der Fernsehmoderator Stanislaw Besuschko meint ganz ähnlich: »Ich weiß nicht, wie es mit der Krim aussieht, glaube aber, dass wir die Russen am Ende aus den gesamten Regierungsbezirken Donezk und Luhansk vertreiben können«, sagt er. »Doch es wird ein langer Kampf werden. Das ist inzwischen allen klar.«
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