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- Dokumentarfilm »Geboren in Ravensbrück«
Für die Lagermütter
Die Dokumentation »Geboren in Ravensbrück« über Ingelore Prochnow, die im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zur Welt kam
Das erste Bild ist idyllisch. Wir sehen einen See, das Wasser rauscht. Links ragt ein wenig Schilf ins Bild, am Himmel hängen graue, schwere Wolken. Rechts, hinter dem See stehen große Bäume, ihre Kronen sind dicht bewachsen und kräftig grün. Irgendwo kurz hinter den Bäumen beginnt eine massive große Mauer. Sie drängt sich ins Bild und zerteilt es.
»Ich stand dort und schaute mich um. Sah die stille, friedvolle Landschaft – auf der anderen Seite des Sees die Silhouette des Städtchens Fürstenberg, Boote auf dem Wasser, eine Idylle. Und nur wenige Meter entfernt, hinter der Mauer, hatte es 10 000-fachen Tod und Vernichtung gegeben, Brutalität und Unmenschlichkeit. Trotzdem hatte dort, hinter der Mauer, in einer der Baracken mein Leben begonnen. Dort hatte ich mein erstes Lebensjahr verbracht. Ich konnte das einfach nicht zusammenbringen. Diese Erinnerung an meine erste Begegnung mit Ravensbrück hat sich mir unauslöschlich eingebrannt.«
Die Stimme aus dem Off gehört Ingelore Prochnow. Der Dokumentarfilm »Geboren in Ravensbrück« erzählt ihre Geschichte. Ingelore Prochnow wurde im April 1944 hier im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in Brandenburg geboren – und überlebte ein Jahr lang unter unvorstellbaren Bedingungen. Ihre Mutter war erst 19 Jahre alt. Der Grund ihrer Inhaftierung: »Verkehr mit einem Polen«.
Erste eigene Erinnerungen hat Ingelore Prochnow an das Flüchtlingslager in Siegen, wo ihre Mutter sie in der Silvesternacht 1947/48 zurücklässt. Ingelore Prochnow wächst bei Adoptiveltern auf, denen sie versprechen muss, nicht nach ihrer Herkunft zu forschen. Erst nach dem Tod der Adoptiveltern fängt sie an zu recherchieren. Sie erinnert sich, wie sie fassungslos vor ihrer Akte im Jugendamt Detmold saß: Das Kind Ingelore Prochnow wurde in einem Konzentrationslager zur Welt gebracht.
In der Folge beginnt eine jahrzehntelange Recherche, die der Film teils rekonstruiert, teils begleitet. Alles ist gut dokumentiert: Dicke Ordner und Notizhefte, auf denen handgeschrieben »Spurensuche« steht, unzählige Akten, Briefwechsel, Dokumente, Aufnahmen von Archivbesuchen. In einer Szene wird durch ein vergilbtes Geburtenbuch aus dem Konzentrationslager geblättert. Die verstorbenen Kinder wurden mit einem Kreuz gekennzeichnet – unzählige der Einträge sind mit einem Kreuz markiert. 900 Kinder wurden in Ravensbrück geboren, nur zwei bis drei Prozent haben überlebt, meist jene, die erst im Frühjahr 1945 zur Welt kamen.
Ingelore Prochnow ist erfolgreich bei ihrer Suche. Sie kann ihre leibliche Mutter ausfindig machen; im Film erzählt sie von der Begegnung mit ihr. Von ihrer Mutter erfährt sie auch einige wenige Details über ihren Vater. Erst an ihrem 67. Geburtstag erhält sie Einsicht in seine Akten.
Ihre Eltern hatten vor ihrer Verhaftung auf einem Bauernhof in Welsleben gearbeitet – sie dienstverpflichtet, er als Zwangsarbeiter. Das Filmteam begleitet Ingelore Prochnow und ihren Mann bei einem Besuch des kleinen Ortes. Eine alte Nachbarin schaut aus einem Fenster, später sitzt Ingelore Prochnow ihr im Wohnzimmer gegenüber. Die alte Frau erinnert sich bruchstückhaft. Nach dem Gespräch steht Ingelore Prochnow draußen im strömenden Regen: »Das war ein Zipfel, den wir zu fassen gekriegt haben«, sagt sie. Sie wirkt bedrückt, dreht sich weg, kommt noch einmal zurück, zaudert und läuft dann entschlossen die Straße entlang, weg vom ehemaligen Bauernhof.
Ingelore Prochnow gewährt im Film einen intimen Einblick in ihre Geschichte. Der Film berührt, ist aber an keiner Stelle rührselig. Die Entscheidung mitzumachen sei ihr nicht leichtgefallen, erzählt sie. Aber die schlichte Tatsache, überlebt zu haben, wenn auch ohne eigene Erinnerung, verpflichte sie. »Ich habe wirklich das Gefühl, ich muss da irgendwie was auch wieder gutmachen den Frauen gegenüber.« Gemeint sind ihre »Lagermütter«, wie sie sie nennt. Denn alleine, da ist sich Ingelore Prochnow sicher, hätte ihre Mutter es nicht geschafft. »Das ist auch mit ein Grund, warum ich mir das antue. (…) Wenn ich überhaupt hier sitze oder stehe vor den Leuten, dann nur, weil da ganz viele dabei mitgeholfen haben.«
Viele Überlebende, die sich aktiv an ihre Inhaftierung in einem Konzentrationslager erinnern können, sind inzwischen verstorben. Die erinnerungspolitischen Herausforderungen, die damit einhergehen, werden seit Jahren diskutiert. Ingelore Prochnow hat sich auch deswegen entschieden, beim Film mitzumachen: Am Ende soll mehr übrig bleiben und erzählt werden als das, was in einen Aktenordner passt.
Geboren in Ravensbrück: Deutschland 2021. Regie: Jule von Hertell. Mit Ingelore Prochnow, Heike Rode, Klaus Prochnow, Frau Sonntag. 45 Min.
Nächste Vorführungen:
8.5., 11 Uhr, Scala-Kino Lüneburg, Filmgespräch mit Jule von Hertell;
12.5., 18 Uhr, Sitte-Galerie, Merseburg;
18.5., 18.15 Uhr, Murnausaal, VHS Bielefeld.
Mehr Infos unter: www.docupasion.de
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