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Eine andere Welt ist notwendig
Das Weltsozialforum in Mexiko-Stadt kämpft mit seinem Bedeutungsverlust
Die Morgensonne scheint bereits durch den dünnen Stoff der Flaggen. Revolutionäre Fäuste, informationsüberladene Banner, der stete Versuch der Komplexitätsreduktion im Stechschritt. Als sich kurz nach zehn Uhr immer mehr Menschen auf der Avenida de la República im Zentrum der Hauptstadt einfinden, jedoch keine Banner des Forums, kehren die Reporter-Zweifel wieder, die einen in Mexiko immer begleiten. Bin ich zu früh? Zu spät? Haben meine Kontakte irgendwas durcheinandergebracht? Die ersten Sprechchöre schallen durch den Betondschungel. Für die Freiheit Palästinas, für den Sieg der Polisario-Front in der Westsahara. Heiße politische Themen, die jedoch von den Alltagssorgen der mexikanischen Gesellschaft nicht weiter weg sein könnten.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Wenig später dann doch: die ersten Banner in rosa Farbe, Erleichterung. Das Weltsozialforum (WSF) 2022 wird heute also doch eröffnet. Seit über 20 Jahren wirkt das Weltsozialforum als Gegenwicht zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Idealistische Treffen, die die Vernetzung von Aktivist*innen ermöglichen, Nationen zusammenbringen, die Probleme beim Namen nennen.
Der Minimalkonsens ist dabei immer ein »So geht es nicht weiter!« - wobei die David-gegen-Goliath-Metapher schnell in den Sinn kommt. Über das WSF wird verhältnismäßig weniger und kürzer berichtet. Dass es keine zentrale Pressestelle gibt und meist jede Gruppierung nur für sich spricht, spielt dabei auch eine Rolle. Die offizielle Erklärung des diesjährigen Forums findet dennoch klare Worte: Wir durchleben zurzeit eine »schwerwiegende zivilisatorische Krise«. An Optimismus fehlt es den Anhänger*innen jedoch nicht: Vorbei am Palast der Schönen Künste im Zentrum von Mexiko-Stadt wird lautstark das Motto des WSFs verkündet: Otro mundo es posible - eine andere Welt ist möglich.
Das ursprüngliche Anliegen, für das das WSF einst gegründet wurde, sei auch heute noch gültig: »Der Kampf gegen ein kapitalistisches System, in dem sich einige wenige auf Kosten der Mehrheit bereichern.« 15 000 Teilnehmer*innen werden erwartet, was nach der Auftaktveranstaltung als ziemlich optimistisch gesehen werden kann.
Gemächlich wird Richtung Zócalo marschiert, dem Platz der Verfassung. Dort werden Nato, USA, Russland, Kapitalismus, Krieg kritisiert. Nach einigen Antikriegsparolen und mexikanischer Blechbläser-Volksmusik zieht der Tross der globalisierungskritischen Idealisten weiter. Die Gewerkschafter*innen, mit denen sich das WSF zunächst mischte, bleiben auf dem Zócalo. Einige Blocks entfernt, auf dem Plaza Santo Domingo, trifft sich der harte Kern.
Auch Ángela Fontes Carillo zeigt heute Präsenz. Sie spricht in einem bunten Kreis aus Obst, Blumen und kunstvollen Verzierungen. »Wir sind Einheit, wir sind Totalität«, erklärt die indigene Aktivistin vor den Teilnehmer*innen, »wenn ich mit meinem Bruder oder meine Schwester streite, dann streite ich mit mir selbst.« Sie sorgt für die spirituelle Seite des Events, die geistige Verankerung des Anti-Neoliberalismus. Carillo freut sich über das Sozialforum, denn dort fühle sie sich repräsentiert. »Hier werden die indigenen Gruppen gehört«, sagt die Aktivistin im Interview. Sie betont, dass indigene Gemeinden nach wie vor ausgebeutet werden, sich an ihren Territorien bedient wird. »Große internationale Konzerne kommen mit einer Gier nach Ressourcen hierher und scheren sich nicht darum, wem hier Land und Grund eigentlich gehören. Sie wollen nur mehr und mehr und mehr.«
Wie ihre Mitstreiter hebt sich Carillo optisch ab: Sie trägt Huipil, die traditionelle Tracht indigener Urvölker Mexikos, Perlenkette, Ohrringe, Kopfschmuck. Aktiv ist sie in der Organisation »Nationaler Rat der indigenen Völker für Bildung«. Dort haben sich über 200 »Großväter«, wie Angela sagt, von verschiedenen indigenen Völkern zusammengefunden. Solch eine Art von Organisation ist wichtig, da viele indigene Gemeinden abgeschottet leben und somit eine Vernetzung für politische und aktivistische Zwecke nur schwer möglich ist.
Auch zwei Aktivistinnen aus der Ukraine wurden eingeflogen. Für die Ukraine - aber auch Russland - gibt es mit den Visa für die Einreise derzeit keine Probleme. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Die mexikanische Einwanderungsbehörde hat sich nicht gerade großzügig gezeigt, was das Ausstellen von Visa für Aktivist*innen angeht. Für das Weltsozialforum ist dieses Problem kein neues, denn bereits 2016 in Kanada - dem ersten und einzigen Forum, das nicht im globalen Süden abgehalten wurde - lehnte der nordamerikanische Staat massenhaft Visa-Anträge ab. Ein Bericht von openDemocracy aus dem September 2016 spricht von rund 70 Prozent abgelehnter Anträge damals.
In den Hauptstadtmedien Mexikos ist das WSF kaum existent. Die linke Zeitung »La Jornada« kündigte das Forum vergangenen Februar an und kam gleich zur Sache - nämlich zu den internen Streitereien. Grob gesagt gibt es diejenigen, die das WSF wie bisher weiterführen wollen, und die Gruppe der »Erneuerer«, die interessanterweise aus ziemlich alten Menschen besteht. Manche gehen gar davon aus, dass diese die letzte Ausgabe des WSF sein könnte.
Das fehlende Echo hier in Mexiko ist vielleicht auch mit der Verdichtung der eigenen, nationalen Probleme zu erklären. Egal welcher Lebensbereich: Das Leben wird schwieriger, die Gewalt grässlicher, die Probleme existenzieller. Bei Delikten, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen implizieren, liegt das Niveau der Straflosigkeit bei 95 Prozent, bei gewaltsamen Verschwindenlassens und Folter sind es knapp 100 Prozent. Das Konzept des Rechtsstaats existiert in Mexiko nur auf dem Papier. In Mexiko wird eine Sache schnell klar: Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern vor allem auch nötig.
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