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Feldtagebuch mit Bierbüchse

»Kletterstangen rosten im Nieselregen«: Aufwachsen im Ostberlin der Wendejahre

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Nina ist sechs Jahre alt, als ihr der Vater abhandenkommt. Ihre Mutter tut sich mit Karlheinz zusammen. Karlheinz besitzt einen Trabant; das ist im östlichen Teil Berlins in den Achtzigern schon etwas Besonderes. Nina wird allerdings nicht viel davon haben, wie bereits auf den ersten Seiten von Katharina Lipperts Roman über das Erwachsenwerden eines Mädchens in Wendezeiten klar wird. Sie wird nicht einmal mitgenommen auf die erste Fahrt, die ihre Mutter mit dem neuen Mann an der Seite unternimmt, und bleibt ohne Wohnungsschlüssel am Straßenrand stehen. Ein verlassenes Kind – auch von jenen, die physisch noch bei ihr sind.

Mit ausgefeilter Lakonie beschreibt Lippert das Ende ihrer Kindheit in schwierigen Familienverhältnissen, die in den gesellschaftlichen Verwerfungen der implodierenden DDR ihre Parallelen finden. Kein Stein bleibt auf dem anderen, was sich zum Besseren zu wenden scheint, ist sowohl im privaten als auch im öffentlichen Daseinsbereich immer nur mit neuen Problemen verbunden. Für das Kind Nina, das Mädchen Nina, die junge Frau Nina beginnt eine anstrengende Zeit der Suche. Nach einem Platz im Leben, nach Liebe und Freundschaft, einer Aufgabe, einem sinnvollen Beruf, ihrem Vater und den Verwandten. Oft genug scheint es dabei, als verheddere sich die Hauptperson in einem unübersichtlichen Koordinatensystem der moralischen Werte. Sie heiratet, wird verlassen, wechselt die Liebhaber und die Wohnungen, trennt sich, studiert und streunt in Bars umher.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Dennoch hat man als Leserin nie die Angst, dass Nina über Sex und Bierbüchsen vollends den Halt verliert. Vielleicht liegt es daran, wie gründlich sie ihre Umgebung studiert, Feldforschung nicht nur während des Studiums betreibt, sondern auch während sie isst, trinkt und liebt. So eine überlegene Beobachterin und Lebensanalystin kann einfach nicht vom Weg abkommen, denkt man sich. Selbst der abwesenden Mutter und deren Lebensgefährten oder dem Vater und dessen Mutter gewinnt sie positive Seiten ab, obwohl sich niemand von ihren engsten Familienmitgliedern ausreichend um sie kümmerte und es allen Grund gäbe, auf sie wütend zu sein. Sie denunziert die Menschen in ihrer Umgebung nicht, wendet sich nicht ab, lamentiert nicht. Stattdessen beobachtet sie, beschreibt und ordnet ein. Genau daraus gewinnt die Protagonistin ihre Stärke und die Geschichte ihren Reiz.

Fast ein Jahrzehnt lag das autobiografisch geprägte Manuskript bei der Autorin in der Schublade, ehe sie den kleinen Berliner Verlag fand, der es nun veröffentlichte. Ein Gewinn für all jene, die in der Wendezeit ähnlichen Irrungen und Wirrungen unterlagen, ihren Weg herausfanden oder sich für die Erlebnisse der Zeitgenossen interessieren. Stark ist der Text in der detailreichen und gekonnten Beschreibung von Situationen, in seinem laxen Humor. Um ihn jedoch einen Roman zu nennen, hätten die Episoden einer übergeordneten verbindenden Idee folgen müssen. Das Zeug dazu hat die Debütantin.

Katharina Lippert: Kletterstangen rosten im Nieselregen. Verlag am Schloss, 2021, 290 S., br., 12 €.

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