Spätimperialistische Brandbeschleuniger

Schon vor gut 100 Jahren wurden Krieg gepredigt und Kriegsfolgen verharmlost. Eine Spurensuche mit Lenin und Karl Kraus

  • Detlef Kannapin
  • Lesedauer: 5 Min.

Es wird langsam Zeit, an die Jahre 1908 bis 1915 zu erinnern. Weit entfernt davon, eine wie auch immer geartete »Zeitenwende« oder ein sogenannter neuer Kalter Krieg zu sein, ist die momentane Signatur der Weltpolitik wie damals eine Eskalation innerimperialistischer Widersprüche in der Phase ihres Verfalls. Mit all den geistigen Verwahrlosungen, die sich in Zeiten solchen Niedergangs immer offenbaren.

Das, was ab August 1914 zum Ersten Weltkrieg führte, war voraussehbar, länger schon. Aber nur wenige Sozialisten und fast keine Bürgerlichen zeigten sich hellsichtig gegenüber dem konzertierten Wollen der imperialistischen Großmächte, die Fragen der Neuverteilung militärisch zu lösen. Spätestens ab 1908 warnte der große Gesellschafts- und Sprachkritiker Karl Kraus unermüdlich in seiner satirischen Zeitschrift »Die Fackel« vor den Illusionen eines großen Krieges als »technoromantischem Abenteuer«, in dem Dragoner und Fußtruppen männlich-heroisch die Säbel zückten, während sie vor dem Zücken durch neuartige Tanks in einer »chlorreichen Offensive« dahingerafft würden.

Außerdem stellte er fest, dass einer Menschheit, die wohlig beim Kinematographen ihrem eigenen Untergang zusah, keineswegs zu helfen sei und dagegen selbst die Naturelemente sich nicht mehr empören könnten. Während der Balkankriege 1912/13 erschütterte Kraus vor allem die Tatsache, dass die Presseberichterstattung Verharmlosung und Phraseologie über die Kriegsfolgen ohne Unterlass predigte – und dass damit ihre Konsumenten überhaupt keine Chance hatten, den Unterschied zwischen der Quartiersuche für Korrespondenten und den daneben liegenden Kriegstoten auch nur wahrzunehmen. Das Resultat 1918 hieß »Die letzten Tage der Menschheit«, eine dramatische Rekonstruktion der Niedertracht aller gegen alle.

Für Sozialisten war dies nicht unausweichlich, wenn sie den marxistischen Grundsätzen treu geblieben waren. So hieß es bei Lenin in der 1915 veröffentlichten Broschüre »Sozialismus und Krieg«: »… stellen wir uns einmal vor, ein Sklavenhalter, Besitzer von 100 Sklaven, läge im Krieg mit einem anderen Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, um die ›gerechte‹ Neuaufteilung der Sklaven. Es ist klar, dass die Anwendung der Begriffe ›Verteidigungskrieg‹ oder ›Vaterlandverteidigung‹ auf einen solchen Fall historisch verlogen und praktisch ein glatter Betrug wäre, begangen von gerissenen Sklavenhaltern am einfachen Volk, an den Kleinbürgern, an der unaufgeklärten Masse. Ganz genauso werden im gegenwärtigen Krieg, den die Sklavenhalter führen, um die Sklaverei aufrechtzuerhalten und zu verstärken, die Völker von der heutigen imperialistischen Bourgeoisie mittels der ›nationalen‹ Ideologie und des Begriffs der Vaterlandsverteidigung betrogen.«

In die Realität des gerade stattfindenden Krieges in Osteuropa übersetzt bedeutet das: Die Kompradoren-Bourgeoisie unter Führung eines zaristischen Ordonnanzoffiziers bekämpft eine andere Kompradoren-Bourgeoisie unter Führung eines Kosaken-Wiedergängers um Pfründe, von denen niemand mehr wirklich weiß, wem sie nützen könnten.

Allerdings bedeutet sinnlos nicht gleich interesselos. Denn im gleichen Atemzug, in dem jetzt in der Ukraine viele Menschen sterben, bewahrheitet sich auf doppelte Weise die Lenin’sche Imperialismustheorie. Der Tod auf dem Schlachtfeld wird erzeugt von Waffen, die aus sowjetischer und russischer Produktion gleichermaßen gegen zwei ehemalige Sowjetvölker selbst eingesetzt werden, wie weiland Krupp den deutschen und den französischen Armeen die Werkzeuge lieferte. Und das in der Regel gut unterrichtete Zentralorgan der maßgeblichen deutschen Kapitalfraktionen, die »Wirtschaftswoche«, wusste am 30. März 2022 zu vermelden, dass die herrschenden Klassen der Russischen Föderation und der Ukraine ihre Geschäfte ungehindert von Schlachtengewitter, Familientragödien und Wirtschaftssanktionen in Dubai weiterführen können, als sei nie etwas gewesen. Für sie ist ja auch nichts passiert – oder besser: Hindenburgs Badekur wird zu Poroschenkos Saunatrip.

Die Analogien zu den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg sind einfach zu handgreiflich, um sie übersehen zu können. Das gilt auch für die Haltung der Sozialisten. Noch einmal Lenin 1915: »Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (Deutschland) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen.« Und an anderer Stelle: »Zu den Sozialchauvinisten gehören sowohl diejenigen, die die Regierungen und die Bourgeoisie einer der kriegführenden Mächtegruppen rechtfertigen und ihre Politik beschönigen, als auch diejenigen, die wie Kautsky den Sozialisten aller kriegführenden Mächte gleichermaßen das Recht auf ‚›Vaterlandsverteidigung‹ zusprechen. Da der Sozialchauvinismus in Wirklichkeit die Privilegien, Machtpositionen, Raubzüge und Gewalttaten der ›eigenen‹ (oder überhaupt einer jeden) imperialistischen Bourgeoisie verteidigt, ist er gleichbedeutend mit völligem Verrat an allen sozialistischen Grundsätzen.«

Das ist auch für heute nahezu selbsterklärend. Der Unterschied zur Hoch-Zeit des Imperialismus besteht lediglich darin, dass seit der Selbstabschaffung des sozialistischen Weltsystems eine Gegenkraft staatlicherseits nicht mehr vorhanden ist, die solchen Machenschaften wirkungsvoll Paroli bieten könnte. Diese Form einer fehlenden (oder gar nicht mehr denkmöglich angestrebten) Alternative erklärt auch die heillose Verwirrung und Verstrickung vieler sich als links verstehender Zeitgenossen in Opportunismus und Pessimismus.

Gewissermaßen negativ gewendet beweist der kapitalistische Medienverbund von Tagespresse bis zu den halbwegs sozialen Medien die Endzeitstimmung des Spätimperialismus in unwidersprochener Farce. Das Hamburger Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« mutierte innerhalb zweier Monate vom selbsternannten Sturmgeschütz der Demokratie zum Sturmgeschütz sans phrase, im wahrsten Sinne des Wortes. In den diesjährigen Heften 4 und 5 der »Blätter für deutsche und internationale Politik« erscheinen mit einem Mal Analysen der martialen Wehrhaftigkeit, auf dass sich die frühere Friedensforschung mehrfach die Augen reiben müsste. Die Tastaturen im Bezahlmodus verwandeln sich in kommunizierende Kanonenrohre und die auf ihnen getippten Urteile können, wie der Historiker Eric Hobsbawm bemerkte, Todesurteile sein. Alles, was unterhalb des Atomkrieges firmiert, gilt als Vaterlandsverrat. Lenins Lakaienzimmer ist bestens bestückt. Karl Kraus wäre nicht erstaunt, aber sicher moralisch gebrochen.

So bleibt als einziger Ausweg die abschreckende Rekrutierung von Leuten wie Mathias Döpfner, Nikolaus Blome, Sascha Lobo, Friedrich Merz, Neef, Annalena Baerbock, Ralf Fücks, Marieluise Beck, Marie-Agnes Strack-Zimmermann u.v.a. ins Kriegsgebiet. Immerhin haben sie am lautesten in die Kriegstrompete getutet. Ganz wichtig ist dabei, dass sie in den Mannschaftsdienstgraden (Soldaten, Gefreite, Unteroffiziere bis maximal Feldwebel) eingruppiert werden und nicht in die rückwärtigen Dienste (=Etappe) kommen – damit sie das, was sie propagieren, auch endlich ausleben dürfen. Wer als spätimperialistischer Brandbeschleuniger bedenkenlos den Waffengang predigt, hat ihn gefälligst selbst zu beschreiten. Sie müssen dabei aber aufpassen, dass sie nicht dem OUN-Beauftragten für Kerneuropa, Andrij Melnyk d.J., in die Hände fallen.

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