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Ein Jahrhundertereignis
Der Wahlsieg von Sinn Féin ist ein Meilenstein für Nordirlands Nationalisten
Es ist ein historisches Wahlergebnis. Seit Sonnabend steht es fest: Die irisch-nationalistische Partei Sinn Féin hat in Nordirland die relative Parlamentsmehrheit errungen und damit ein Jahrhundert der unionistischen Dominanz beendet. Die Bewegung für eine Wiedervereinigung der gesamten irischen Insel hat damit einen kräftigen Schub erhalten. Sinn Féin gewann bei der Wahl am Donnerstag 27 Sitze, Spitzenkandidatin Michelle O’Neill hat damit das Anrecht, Erste Ministerin und somit Regierungschefin zu werden. Die bisher größte Partei hingegen, die pro-britische Democratic Unionist Party (DUP), gewann nur 25 Sitze. »Heute beginnt eine neue Ära«, sagte O‹Neill nach ihrem Sieg. Sie rief ihre Landsleute auf, eine »gesunde Debatte darüber zu führen, wie unsere Zukunft aussehen wird«.
Der Triumph von Sinn Féin verdankt sich einerseits den Fehlern der DUP, nicht zuletzt deren vermasselter Brexit-Politik. Zur Erinnerung: Die DUP war – im Gegensatz zur Mehrheit der Nordiren – eine glühende Befürworterin des EU-Austritts, man versprach sich eine stärkere Anbindung an Großbritannien. Eingetreten ist das genaue Gegenteil, nämlich eine Zollgrenze in der Irischen See, und damit allerhand Probleme für nordirische Unternehmen.
Viele gemäßigte Unionisten haben deswegen vermehrt für die Alliance Party gestimmt, eine liberale Zentrumspartei, die sich weder mit dem unionistischen noch mit dem nationalistischen Lager identifiziert. Die Partei hat 17 Sitze im Parlament in Belfast gewonnen.
Aber der Niedergang der DUP ist nicht nur dem Brexit geschuldet. In einer Zeit, in der sich die nordirische Gesellschaft bewegt, sowohl in konstitutionellen wie auch sozialen Fragen, bleibt die Partei hartnäckig in der Vergangenheit sitzen. Sie lehnt die gleichgeschlechtliche Ehe und das Abtreibungsrecht weiterhin ab und vermag jüngere Protestanten damit immer weniger zu repräsentieren. Auch dass sich die DUP völlig auf die konstitutionelle Frage eingeschossen hat, befremdet viele jüngere Unionisten, für die politische Identitäten weit weniger wichtig sind.
Demgegenüber blickt Sinn Féin in die Zukunft. Sie hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend vom früheren sozialen Konservatismus verabschiedet, unterstützt heute das Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe. Auch ist sie explizit pro-europäisch. Zudem ist Sinn Féin bemüht, ihre Rolle im bewaffneten Konflikt, der bis Mitte der 1990er-Jahre andauerte, vergessen zu machen. Wurde die Partei früher lediglich als der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gesehen, ist diese Assoziation mittlerweile für viele Nordiren weit weniger relevant geworden. Dieser Imagewandel wird dadurch begünstigt, dass viele Sinn-Féin-Politiker, etwa die 45-jährige Michelle O’Neill, einer neuen Generation von Nationalisten angehören.
Sinn Féin hat während des Wahlkampfs denn auch die konstitutionelle Zukunft Nordirlands nicht zum Hauptthema gemacht. Stattdessen hat sie über alltägliche Probleme gesprochen: die Krise der Lebenshaltungskosten, steigende Mieten, der bröckelnde Gesundheitsdienst NHS. »Das war ein cleverer Schachzug von Sinn Féin, denn dadurch ließen sie die DUP rückwärtsgewandter erscheinen«, sagt Peter McLoughlin, Politologe an der Queen’s University in Belfast.
Trotz des Triumphs von Sinn Féin wird es in nächster Zukunft keine Abstimmung über einen Zusammenschluss mit Irland geben. Damit ein solcher border poll stattfinden kann, muss die Regierung in London die Zustimmung geben. Sie wird es erst dann tun, wenn sich abzeichnet, dass ein großer Teil der nordirischen Bevölkerung einer Wiedervereinigung zustimmen würde. Laut einer neueren Umfrage würde jedoch weniger als ein Drittel der Nordiren derzeit für ein vereinigtes Irland stimmen.
Unmittelbar ist eine andere konstitutionelle Frage am akutesten: Wie geht es weiter mit der Regierung in Belfast? Denn die DUP hat noch nicht bestätigt, dass sie sich an einer Regierung beteiligen wird – sie protestiert damit gegen das Nordirland-Protokoll. Ihre Beteiligung ist jedoch gemäß dem Prinzip der Machtteilung nötig. Politologe McLoughlin befürchtet, dass jetzt ein monatelanges politisches Patt kommt. »Es wird viel davon abhängen, was Boris Johnson jetzt tut: Wird er Druck ausüben auf die Unionisten, um ihnen klarzumachen, dass es keine bessere Alternative zum Protokoll gibt?«
Michelle O‹Neill sagte am Wochenende, dass ihre Partei am Montag bereit sei, in Belfast eine Exekutive zu bilden. »Die anderen Parteien sollten dasselbe tun. Keine Ausreden, kein Unsinn, keine Zeitverschwendung.«
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