Rotes Rauschen

Absurd, grotesk und unberechenbar: Vladimir Sorokin zeigt in dem Erzählband »Die rote Pyramide« Russland gestern und heute

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Rote Platz in Moskau: Ein Ort des roten Rauschens – zumindest in den Erzählungen von Vladimir Sorokin
Der Rote Platz in Moskau: Ein Ort des roten Rauschens – zumindest in den Erzählungen von Vladimir Sorokin

Nach dem Ingenieursstudium illustrierte Vladimir Sorokin Bücher, malte und schrieb kurze Prosa für den Samisdat, also an der Zensur vorbei im Selbstverlag. Gemeinsam mit Malern wie Ilja Kabakow und Schriftstellern wie Dmitri Prigow entwickelte er Anfang der 80er Jahre im Rahmen des Moskauer Konzeptualismus die Kunstrichtung der Soz Art, mit der das Regelwerk des sozialistischen Realismus ad absurdum geführt wurde. Das erkannte eine größere Leserschaft zum ersten Mal 1992, als ein Erzählband in Moskau herauskam und in Zürich dessen deutsches Pendant »Der Obelisk« mit überzeugenden Beweisen für die subversive Kraft der Soz Art erschien.

Danach publizierte Sorokin fast jedes Jahr ein brisantes Werk, darunter die Romane »Der himmelblaue Speck« und »Der Tag des Opritschnik«, die Stücke »Ein Monat in Dachau« und »Hochzeitsreise« sowie das Libretto zur Oper »Rosenthals Kinder«. Darin verfeinerte der Autor seine Schreibweise. Heute wird er weltweit als Klassiker der russischen Postmoderne angesehen.

Von Anfang an weisen Sorokins Werke ein unverkennbares Markenzeichen auf. Auf die Kopie eines sozialistisch-realistischen oder virtuos stilisierten anderen Textteils folgt seine Dekonstruktion durch den unvermittelten Übergang zu einem absurden oder grotesken Textteil, durchsetzt von Tabubrüchen, Schock-Effekten, Sex- oder Gewaltszenen, mystischen Fantasien oder wahnwitzigen Träumen, verbunden mit chaotischen Wortkaskaden und Sprachströmen. In dem Band »Die rote Pyramide«, den der Verlag Kiepenheuer & Witsch jetzt in einer brillanten Übersetzung von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg herausgebracht hat, nimmt Sorokin in dieser bewährten Manier in neun zwischen 2002 und 2018 in Moskau veröffentlichten Erzählungen genormte Lebensweisen der Sowjetzeit und gesellschaftliche Verwerfungen im postkommunistischen Russland aufs Korn.

Die Titelgeschichte beginnt mit einer kuriosen Lovestory. Jura, von Natascha eingeladen, verpasst das Date, weil er die falsche Bahn nimmt. Beim Warten auf den richtigen Zug erfährt er von einem seltsamen Fremden, dass Lenin auf dem Roten Platz die »Pyramide des roten Rauschens« in Gang gesetzt habe. Sie störe die innere Ordnung des Menschen, damit er aufhöre, Mensch zu sein. Jura verdrängt diese Begegnung und vergisst Natascha. Der folgende Textteil parodiert eine Sowjetbiografie. Juri wird Journalist, heiratet die Tochter alter Freunde der Eltern, arbeitet dank der Protektion seines Vaters bei der Zeitung »Komsomolskaja Prawda«, tritt Ende der 60er in die Partei ein, wechselt zum Blatt »Iswestija« und geht Mitte der 70er zum »Ogonjok«. Er wird wegen eines »unbedacht genehmigten« Artikels vor die Parteileitung geladen, wo ihm jemand »mit dem Gesicht eines alten Wolfes« klarmacht, dass seine Karriere am seidenen Faden hänge. Am Ende kippt der Text ins Grotesk-Mystische. Im Sterben sieht Juri die rote Pyramide, hört das rote Rauschen und erinnert sich an den seltsamen Fremden, der wohl der Seraph Boroul, also ein Schutzengel, war.

»Der Tag des Tschekisten« beginnt wie ein Perestroika-Text mit dem Geständnis zweier wodkaseliger ehemaliger KGB-Offiziere. Iwan gibt zu, dass er es nicht bereue, Unschuldige verhaftet, falsche Aussagen erpresst, gefoltert, erschossen zu haben, Geiseln genommen, Bauern ausgeraubt, ganze Völker deportiert, Ärzte als Schädlinge abgestempelt, Schriftsteller aus dem Land getrieben und Juden ermordet. Mark bekennt sich ähnlicher Verbrechen schuldig. In einem voyeuristischen Textteil erzählt Mark, wie er in jungen Jahren den Sex zweier Pionierleiter, die Vergewaltigung der 15-jährigen Sascha durch den dienstälteren Marat, belauscht hat. Marat habe Sascha eingehämmert, dass Juri Andropow das Land regiere, KGB-Offiziere wie sein Onkel Pascha allmächtig seien, er eine hohe Funktion im Komsomol ausüben und dafür sorgen werde, dass Sascha Schauspielerin wird. Wenn sie seine Geliebte bleibt.

Meist erlaubt es die Erwähnung winziger Details, die Handlungszeit der Texte zu bestimmen. Die beiden Tschekisten »beichten« sicher erst nach dem Ende der Sowjetunion, während die Nachgeschichte zur Regierungszeit Andropows, also 1983/84, spielt. Am Ende der Dorfgeschichte »Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge« sagt der Bauer Filja, er werde am nächsten Tag, Sonntag, dem 22. Juni 1941, weiter mähen. Diese Familie ahnt nichts vom bevorstehenden Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, ist unvorbereitet wie das ganze Land. In »Wellen« liest der Protagonist in der Zeitschrift »Nowyj mir« Solschenizyns Erzählung »Matrjonas Hof«, die 1963 erschien. Die RS-20, die sich in »Lila Schwäne« in Zuckerhüte verwandelt haben, sind die 1975 in der Sowjetunion erprobten ballistischen Interkontinentalraketen vom Typ »Satan«. In »Der Fingernagel«, wo es zum Duell unterschiedlicher »Popolöcher« kommt, genügen die Familiennamen Bobrow und Frajerman, um die sowjettypischen antisemitischen Spannungen in Erinnerung zu bringen.

Sorokins literarische Texte sind heute so aktuell und brisant wie in den vergangenen 30 Jahren. Die Methode der Soz Art hat nichts von ihrer subversiven Kraft eingebüßt. Auch politisch hat Sorokin seine kritische Haltung gegenüber dem Putin-Regime bis auf den heutigen Tag bewahrt. Er war einer der ersten russischen Schriftsteller, der die »Spezialoperation« des Kremlchefs scharf verurteilte. Bereits am 26. Februar 2022 erschien in der »Süddeutschen Zeitung« sein Essay »Putin ist geliefert«. Darin bezeichnet er den russischen Präsidenten als wahnhaft gnadenloses »Monster« und »Ungeheuer«. Dessen Kriegsziel sei nicht die Zerstörung der Ukraine, sondern der westlichen Zivilisation, die er als KGB-Offizier nach dem Zusammenbruch der UdSSR noch mehr als früher hassen gelernt habe. Putins Machtpyramide sei im 16. Jahrhundert von Iwan dem Schrecklichen geschaffen und von Stalin und anderen Diktatoren mit grausamer Gewalt ausgebaut worden. Doch der Sieg der Demokratie werde sie unweigerlich zum Einsturz bringen.

Sorokins Name stand neben den Unterschriften von Swetlana Alexijewitsch, Ljudmila Ulitzkaja, Michail Schischkin, Maria Stepanowa, Sergej Lebedew, Ilja Trojanow, Herta Müller, Christoph Hein und vielen anderen russischen und internationalen Schriftstellern unter dem Aufruf des Deutschen PEN-Zentrums »Skip Putin. Sprechen Sie mit den Russen« vom 5. März 2022. Am 22. April forderte Sorokin mit dem Artikel »Unser Krieg« in der »Süddeutschen Zeitung« die Europäer auf, der Ukraine zu helfen, Russland zu besiegen. Er erläuterte die Symbolik der Kriegszeichen Z und V schloss mit dem Gedanken, dass die Ukraine für ihre Zukunft und die Zukunft Europas kämpfe.

Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Erzählungen. A. d. Russ. v. Andreas Tretner u. Dorothea Trottenberg. Kiepenheuer & Witsch. 192 S., geb., 20 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.