Bezaubernder Himmel und furchtbare Grausamkeit

Der Genauigkeitsfanatiker war einer der besten Schriftsteller der Sowjetunion: Isaak Babel in neuen Ausgaben

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Prosaist, der noch fürs Nebensächlichste einen Blick: Isaak Babel
Ein Prosaist, der noch fürs Nebensächlichste einen Blick: Isaak Babel

Sie saßen bei Aschinger in Berlin und löffelten Erbsensuppe, beide Schriftsteller, der eine, Elias Canetti, noch auf dem langen Weg zu seinem großen Roman »Die Blendung«, der andere, Isaak Babel, schon berühmt. Canetti lebte bereits eine Weile in der Stadt; Babel, ein kleiner, untersetzter Mann mit rundem Kopf und runder Brille mit dicken Gläsern, hatte sich in Paris aufgehalten und machte auf der Rückreise nach Moskau hier Station. Der Russe aß so langsam wie möglich, um länger die Leute beobachten zu können, jeden Einzelnen. Am liebsten hätte er so den ganzen Tag dagesessen, gelöffelt und beobachtet. Nie, sagt Canetti, habe er jemanden erlebt, »der mit solcher Intensität sah … Er verwarf beim Sehen nichts, denn er hatte für alles den gleichen Ernst, das Gewöhnlichste wie das Ungewöhnlichste war für ihn von Bedeutung.«

In dieser Beobachtung ist schon der ganze Isaak Babel enthalten. Ein Prosaist, der noch fürs Nebensächlichste einen Blick hat und Dinge sieht, die sonst niemand beachtet oder ausspricht; der Erzähler, der 1920 mit der Reiterarmee in den Krieg gegen Polen zieht und nichts Heroisches findet, sondern nur Entsetzen, Verwüstung, erschöpfte Soldaten, Wahnsinnige, Krüppel, zerschossene Pferde, lethargische Bauern.

Kein anderer hat so dicht, so knapp und so wortstark russisches Leben vor und nach der Revolution beschrieben. Babel, der am 12. Juli 1894 geborene Jude aus Odessa, war die unverkennbare Stimme in einer Welt des Umbruchs, der Realität hingegeben, unempfänglich für Wunschbilder und Fortschrittsparolen. Er war, schrieb Fritz Mierau, der Geschichte nicht hörig. »Er wurde einer, der sie macht – als Dichter.« Und wurde einer der besten Schriftsteller der Sowjetunion. Am 15. Mai 1939 hat man ihn nach verleumderischen Anzeigen verhaftet. Die Manuskripte, die man damals fand, ganze Stapel, wurden vernichtet, er selber ist am 27. Januar 1941 im Lager gestorben. Selbst seine Frau erfuhr erst 1954 offiziell von seinem Tod. 1954 ist er auch rehabilitiert worden.

Bei Carl Hanser erschienen 2014, vorgelegt in der schönen Klassik-Reihe, Babels sämtliche Erzählungen, übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. Das Buch war ein Ereignis. Es stellte ein Werk vor, das, so zerstreut und ungesichert wie kaum ein anderes, in Teilen erstmals 1926 zu deutschen Lesern kam. Damals publizierte Wieland Herzfelde im Malik-Verlag »Odessaer Geschichten« und »Budjonnys Reiterarmee«. Danach die große, sehr lange Pause. Babel war schon drei Jahrzehnte tot, als es durch Fritz Mierau im Osten und Peter Urban im Westen erste Auswahlbände und Werksammlungen gab. Sie machten aber auch das Dilemma sichtbar. Noch zu Babels 70. Geburtstag, 1964, tauchten Arbeiten auf, die nie gedruckt worden waren.

Hinzu kommt, dass bis zum Ende der Sowjetunion auch seine Texte der Zensur unterlagen. Der Hanser-Band war der erste in deutscher Sprache, der alle bekannten Prosaarbeiten vorstellte, die frühen und die späten Erzählungen, die Fragmente und natürlich die berühmten Sammlungen »Die Geschichte meines Taubenschlags«, »Geschichten aus Odessa« und »Die Reiterarmee«.

Der Verlag krönt die Wiederbegegnung jetzt mit einem weiteren Band, der unter dem Titel »Wandernde Sterne« die beiden Dramen Babels, seine Drehbücher, die Reportagen, autobiografischen Auskünfte, Aufsätze, Reden, Interviews und das so wichtige »Tagebuch 1920« bringt, auch diesmal alles, bis auf Peter Urbans Tagebuch-Version, von Bettina Kaibach neu übersetzt. Die faszinierende, auf Dünndruckpapier vorgelegte Sammlung der Heidelberger Slawisten Bettina Kaibach und Urs Heftrich zeigt Babel in seiner Vielseitigkeit und all seinen Facetten, zeigt den Genauigkeitsfanatiker, der kein Manuskript aus der Hand gab, ehe nicht alles stimmte, jedes Wort, jeder Satz, jede Metapher. Er schönte nichts, und er ließ, meinte Elias Canetti, auch nicht weg, was ihm nicht passte. Und: »Was ihn am tiefsten quälte, das ließ er am längsten auf sich einwirken.«

Babel war gefährdet. Er wusste es. Und war, wenn er etwa vor sowjetischen Schriftstellern sprach, auf der Hut. Einmal, in einem Briefentwurf vom 13. August 1920, den man in seinem Tagebuch fand und der in der Mitte des neuen Bandes steht, hat er die Nöte, in denen er steckte, beschrieben: »Über uns ein bezaubernder Himmel, milde Sonne, ringsum atmet die Kiefer, schnauben Hunderte von Steppenpferden, hier könnte man leben, doch all unsere Gedanken sind aufs Morden ausgerichtet … Ich habe hier zwei Wochen der Verzweiflung erlebt, die kam von der furchtbaren Grausamkeit, die hier keinen Augenblick lang aussetzt, und davon, dass ich begriffen habe, wie untauglich ich für das Werk der Zerstörung bin.« Die einen werden die Revolution machen, sagt er, er aber werde »das besingen, was sich abseits befindet, das, was tiefer sitzt, ich habe gespürt, dass ich das können werde, dafür wird Zeit sein und auch Raum«. Er fand die Zeit und schrieb die Geschichten seines Bandes »Die Reiterarmee«. Sie erschienen 1926 erstmals vollständig in Moskau.

Semjon Budjonny, der Heerführer in den Kämpfen, die der Revolution von 1917 folgten, hat sich 1928 in einem offenen Brief an Maxim Gorki über Babels Buch aufgebracht beschwert. Er beklagte, dass die Erzählungen die grandiosen Taten und Siege seiner Männer nicht registrierten, und legte Wert auf die Mitteilung, »dass Babel nie wirklich aktiver Soldat der Reiterarmee gewesen sein kann«. In den »Hinterhöfen« der Armee habe er sich herumgetrieben, schrieb Budjonny, und deshalb habe er auch nur »Weiberklatsch« erzählt, in »Weiberkram« gewühlt und mit »weibischem Entsetzen« berichtet, »wie ein hungriger Rotarmist sich irgendwo ein Huhn und einen Brotlaib nahm. Denkt sich Histörchen aus, schüttet seinen Schmutz über unsere besten Kommandeure – Kommunisten –, fantasiert und lügt.«

Er hatte mit seinem dramatischen Einspruch kein Glück. Gorki war der Erste, der auf Babel aufmerksam gemacht hatte, der die schützende Hand über ihn hielt, ihn verteidigte und das seltene Talent seines Kollegen rühmte. »Ich kann Ihre Meinung über Babels ›Reiterarmee‹«, erwiderte er, »nicht teilen und protestiere entschieden gegen Ihre Einschätzung des begabten Schriftstellers.« Später, 1930, fügte er in einem Brief an Wsewolod Wischnewski hinzu: »Babel ist schlecht gelesen und nicht verstanden worden – das ist es.« Aber in Budjonnys Protest war schon ausgedrückt, was die Sowjetmacht über den Verfasser der »Reiterarmee« dachte.

Babel war ein Poet unter den Prosaisten, ein Romantiker, der mit Witz und Ironie nicht geizte. Seine Geschichten, die manchmal nur zwei, drei Druckseiten einnehmen, bevölkert von Liebenden, Kriegern, armen Juden, Ganoven, Spitzbuben, Fantasten, sind Zeugnisse eines grandiosen Stilisten, der Krieg und Pogrome so fantastisch knapp und prägnant, nüchtern und schonungslos beschrieb wie die Vorgänge bei der Kollektivierung der Landwirtschaft. Nimmt man beide Bücher des Hanser-Verlages zusammen, beide hilfreich mit Kommentaren und Anmerkungen versehen, hat man beinahe, von den Briefen abgesehen, den ganzen Babel, eine der eindrucksvollen, anrührenden Gestalten der modernen Weltliteratur.

Isaak Babel: Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse, 845S., geb., 38€;

Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen, 863S., geb., 39,90€;

beide Bände hg. v. Urs Heftrich u. Bettina Kaibach, übers. v. Bettina Kaibach u. Peter Urban, Carl-Hanser-Verlag.

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