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Prophetische Poeten?
War der Krieg in der Ukraine vorhersehbar? Wie ein Streifzug durch die Literaturgeschichte zeigt, hatten Schriftsteller oft das richtige Gespür
Diese Sätze könnten gestern geschrieben worden sein: »Das eingängigste Manifest sind die Fleischstücke, die / man morgens auf den Märkten auslegt wie Zeitungen. / Die überzeugendsten Reime sind die gleichmäßigen und / dumpfen / Maschinengewehrsalven, mit denen man / verletzte Tiere tötet. / Alle waren gewarnt. / Alle kannten das Vertragswerk. / Alle wussten, der Preis würde unglaublich hoch sein. / Sagt ruhig, es ist euch zu viel Politik. / Redet von den sonnigen Horizonten.« Obwohl hier die Rede vom Schlachtgut ist, weiß natürlich jeder, dass Menschen gemeint sind, Menschen, denen der Krieg Leben und Würde genommen hat. Diese traurige Erkenntnis mag nicht neu sein. Besonders auffällig mutet bei diesen Versen eher der Hinweis an, dass alle es hätten wissen müssen. Und zwar nicht retrospektiv – denn hinterher sind ja bekanntlich immer alle schlauer –, sondern seit den Maidan-Protesten und der Krim-Annexion.
Zumindest dem ukrainischen Autor Serhij Zhadan war die Zukunft offensichtlich bewusst. Denn die Lyrik seines just erschienenen Bandes »Antenne« entstand schon in den vergangenen Jahren. Dieses so faszinierende wie erschreckende Beispiel einer visionären Kunst des Schreibens zeigt ein weiteres Mal, dass an dem Mythos vom prophetischen Dichter durchaus etwas dran sein muss. Wie gut ginge es der Menschheit wohl heute, hätte sie stets die Menetekel der Schriftstellerinnen und Schriftsteller beachtet und ernst genommen? Dass sie oftmals zutrafen, belegt die Geschichte. Und die findet ihren Anfang in einem, der eigentlich erblindet ist, nämlich Teiresias. Seit Homer begegnet er uns in Texten der Antike. In verschiedenen Konstellationen in der Thebanischen Trilogie des Sophokles sagt er letztlich verrätselt den Fluch der Labdakiden voraus, der Kreon, Ödipus und weitere zu Fall bringen wird. Zwar mögen die Geschichten um den nicht sehenden Seher doch vor allem Mythos und damit fiktiv sein. Aber damit war auch ein Archetypus geboren.
Sein Nachleben schlägt sich in positiven wie negativen Vorhersagungen nieder. Bei ersteren lassen sich natürlich all die Utopisten unter den Romanciers anführen. So etwa Tommaso Campanella mit seiner »Sonnenstadt« (1602), Johann Karl Wezel mit seinem »Robinson Krusoe« (1780) Thomas Morus mit seinem kanonischen Werk »Utopia« (1516). Allesamt haben sie mal mit mehr, mal mit weniger Irrtümern Urbilder demokratischer Gesellschaft entwickelt. Lange bevor man noch überhaupt an einen Staatenbund denken konnte, schwärmte schon Friedrich Schiller in seiner »Ode an die Freude« (1786), dass alle Menschen Brüder würden. Davon sind wir noch weit entfernt, erst recht im Schatten des Krieges.
Doch bevor dieses Glück den Kontinent bereichern sollte, hatten andere Dichter das rechte Gespür im buchstäblichen Sinne. Bereits in Heinrich Heines zwischen romantischer Sehnsucht und galliger Politsatire mäanderndem Langgedicht »Deutschland. Ein Wintermärchen« (1844) lassen sich zahlreiche Anspielungen auf den gewaltsamen Nationalismus des 20. Jahrhunderts finden. »Fatal ist mir das Lumpenpack«, schimpft sein reisendes Ich, »das um die Herzen zu rühren, / Den Patriotismus trägt zur Schau / Mit allen seinen Geschwüren.« Noch deutlicher fällt die Passage zwischen dem Textsubjekt und einer Göttin aus, die von der »Zukunft deines Vaterlands« künden wird. Ansichtig wird es ihrer in einem »Zauberkessel«, der nichts anderes als eine euphemistische Umschreibung für das Klosett bedeutet. Ähnlich vorausschauend fallen gewiss viele Werke um und nach 1900 aus. Man denke nur an Franz Kafkas Romanporträt eines kruden Unrechtsstaates »Der Prozess« (1925), der nicht nur als Weissagung der späteren Nazi-Herrschaft, sondern wohl auch der Wirren einer arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft der Moderne verstanden werden kann.
Dass Literatur schon oft als Spiegel für ein noch nebulöses Morgen diente, ist übrigens auch seit einiger Zeit in den Fokus der Wissenschaft gerückt. Allen voran das Cassandra-Projekt des Tübinger Germanisten Jürgen Wertheimer hat es sich erfolgreich zur Aufgabe gemacht, aus fiktionalen Texten letztlich Warnungen und Ratschläge für Politik und Gesellschaft herauszudestillieren. Wie der Forscher schon in mehreren Interviews schilderte, hätte man bei sorgfältiger öffentlicher Beachtung dieser Ergebnisse so manche Fehlentwicklung etwa in Afghanistan eventuell verhindert.
Intuitiv mag den meisten in diesen Tagen die Lust am Lesen abhandengekommen sein. Mehr noch: Während im Osten Europas ein Krieg herrscht, erscheint vielen die gepflegte Lektüre auf dem Sofa dekadent. Doch solcherlei Gefühle basieren auf einem Trugschluss. Gerade jetzt könnte im Lichte der historischen Betrachtungen der prophetischen Stimmen in der Literatur die Zeit für deren wachsames Studium gekommen sein. Und zwar gänzlich ohne Eskapismus. Denn es kann dabei helfen, dass uns die Zukunft nicht abhandenkommt, bevor wir sie gelebt haben werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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