Der verblasste Charme von »Cool Britannia«

Vor 25 Jahren kam Tony Blairs »New Labour« an die Regierung. Es wurde eine prägende Zeit für Großbritannien. Doch für Linke hinterließ Blair ein zwiespältiges Erbe

  • Florian Weis
  • Lesedauer: 7 Min.

Am 1. Mai 1997 errang die von Tony Blair, Gordon Brown und Peter Mandelson als »New Labour« etikettierte Partei in Großbritannien einen großen Wahlsieg. Bei einer damals als mäßig geltenden Wahlbeteiligung von 71 Prozent reichten Blair gut 43 Prozent der Stimmen, um Labour fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus zu bescheren. Die Konservativen unter ihrem glücklosen Premierminister John Major fielen auf 31 Prozent der Stimmen zurück. Nach 18 endlos langen Jahren und vier Wahlniederlagen seit 1979 – gegen Margaret Thatcher und John Major – war Labour endlich wieder an der Regierung.

Selbst viele ehemalige oder verbliebene Parteilinke wie David Blunkett (erst Bildungs- und dann Innenminister), Robin Cook (Außenminister), John Prescott (stellvertretender Premierminister) oder Claire Short (Entwicklungshilfeministerin) hatten ihren Frieden mit »New« Labour gemacht. Das hatte nicht nur opportunistische Gründe mit Blick auf die eigene Karriere, sondern war auch Ausdruck eines Bestrebens, endlich wieder aktiv (Regierungs-)Politik gestalten zu können. Nicht zuletzt hatten die schweren Wahlniederlagen, die bitteren parteiinternen Kämpfe und die Abspaltungen einer sozialdemokratischen Gruppe, die sich schließlich mit den Liberalen zu den Liberaldemokraten vereinte, ersthafte Zweifel geweckt, ob die Labour Party überhaupt jemals wieder werde regieren können. Vor diesem Hintergrund waren große Teile der Partei bereit, fast alles zu akzeptieren, was aus der Daueropposition herausführen würde. Aber der Preis dafür war hoch.

Labours führender Parteilinker Tony Benn beschrieb »New Labour« einmal einprägsam mit dem Bild eines großen Feuerwerkes auf einem gefrorenen See: Es sehe spektakulär aus, doch schmelze so das eigene Fundament. Benn übersah zwar in seiner Kritik an Blair, dass die traditionelle Labour-Koalition aus Gewerkschaften, Bewohner*innen der Kommunalwohnungen, Bergbau-Gemeinden, Kommunalbediensteten und neuen linken Strömungen längst bröckelte. Dennoch vergrößerte Blairs Kurs nach zunächst beträchtlichen Erfolgen tatsächlich langfristig die tiefe Vertrauenskrise Labours vor allem in Nordostengland und in Schottland.

Ein Ausdruck dieser Abwendung traditioneller Arbeiter*innenmilieus von Labour war der dramatische Einbruch der Wahlbeteiligung bei ihrem zweitem und dritten Wahlsieg 2001 und 2005, als jeweils nur noch rund 60 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben. Auch wenn sich die Wahlbeteiligung bei den folgenden Unterhauswahlen leicht erholte, liegt sie bis heute konstant unter 70 Prozent. Nur beim Brexit-Referendum 2016 lag die Beteiligung mit 72 Prozent noch einmal deutlich höher, was dem Resultat durchaus eine starke demokratische Legitimation verlieh.

Britpop und Blair

Für einige Jahre gelang es Tony Blair, der bei seinem ersten Wahlsieg erst 43 Jahre alt war, sich und »New Labour« als Verkörperung eines jungen, dynamischen und weltoffenen Großbritanniens zu präsentieren, das auch der Britpop von Oasis und Blur zu verkörpern schien: »Cool Britannia« statt »Rule Britannia!«. Die Mode, die Spice Girls und Filme mit Hugh Grant standen für diesen letztlich eher vage definierten Trend in den 90er Jahren.

Recht schnell überschatteten das Übermaß an »Spin Doctors« und Medienpräsenz, die zunehmende Vermengung mit der Welt des Glitters und schnellen Geldes (der Milliardär und Blair-Freund Richard Branson sei hier als ein Beispiel genannt) und ein Eindruck von Manipulation und Zynismus das coole Image. In der Folge wuchs in der britischen Bevölkerung eine wütend-zynische Verachtung des gesamten Politikbetriebs. »New Labour« und »Cool Britannia« verband, dass beides weit mehr Hochglanzverpackung als Inhalt ausmachte, mehr Slogan als Substanz, mehr Hype als Nachhaltigkeit. Hinzu kam eine extreme Personalisierung und eine geradezu manische Neigung, alle Kommunikation zu zentralisieren: Blair, der Kontrollfreak. Seine Dominanz des eigenen Kabinetts erinnerte mehr an die Machtfülle eines US-Präsidenten als eines traditionellen Premierministers und ähnelte darin der Staatsführung Margaret Thatchers.

Was Blair und seine Unterstützer*innen als Stärke eines »strongman« sahen, erwies sich zunehmend als Problem und Schwäche. Der britische Politikwissenschaftler Archie Brown (»Der Mythos vom starken Führer«) steht keineswegs alleine mit seiner Einschätzung, dass Blair ein politischer Führer mit autoritären Zügen gewesen sei, dies aber alles andere als eine Stärke war. Demgegenüber gilt Labours Nachkriegspremier Clement Attlee (1945–1951), zu seiner Zeit oft als unscheinbar kritisiert, für die meisten Wissenschaftler*innen heute mit Recht als einer der erfolgreichsten britischen Regierungschefs überhaupt.

Blairs Führungsstil führte auch dazu, dass das Parteileben erlahmte und die Mitgliederzahlen drastisch sanken, die zu Beginn seiner Parteiführungszeit (1994–2007) zunächst stark angestiegen waren. Es bleibt das Verdienst der Labour-Führung um Jeremy Corbyn, die Partei zwischen 2015 und 2020 als Mitgliederpartei wiederbelebt und die Gewerkschaften wieder integriert zu haben, deren Rolle in der Labour Party Blair beschränkt hatte.

Tony Blair und anfangs auch Gordon Brown wollten Labour als moderne Partei in deutlicher Abgrenzung von »Old Labour« präsentieren. Sozialpolitisches Engagement und Prävention verbanden sich mit Härte gegen Kriminalität und einer Akzeptanz wesentlicher Ergebnisse der Thatcher-Ära: Eine Art Thatcherismus mit menschlichem Antlitz. Eine wirtschaftspolitische Re-Regulierung war ebenso wenig vorgesehen wie eine Rückgängigmachung von Privatisierungen oder eine Stärkung der zurückgedrängten Gewerkschaften. Tatsächlich waren viele Maßnahmen der Thatcher-Regierungen übrigens in der britischen Bevölkerung durchaus populär gewesen, so der Verkauf der Kommunalwohnungen an die vormaligen Mieter*innen und teilweise auch der Kampf gegen die Gewerkschaften.

Der lange Schatten des Irak-Krieges

Trotz allem wäre das Ansehen von Tony Blair heute deutlich positiver, hätte er sein Land nicht 2003 so rückhaltlos und geradezu fanatisch überzeugt in den Irak-Krieg geführt. Dagegen gab es die wohl größten Protestkundgebungen in der britischen Geschichte. Nachdem 2001 rund 41 Prozent der Stimmen noch einmal zu einer riesigen parlamentarischen Mehrheit geführt hatten, gelang Labour, mittlerweile kaum noch als »New« bezeichnet, 2005 ein noch nie da gewesener dritter Wahlsieg in Folge, der freilich auf kaum mehr als 35 Prozent der Stimmen beruhte. Die anhaltende scharfe Kritik an Blairs Mittäterschaft am dritten Golfkrieg, bestätigt auch durch offizielle Untersuchungsergebnisse, prägt und überschattet bis heute sein Bild.

In anderen Politikfeldern fällt eine Bilanz der Regierungen von Tony Blair (1997–2007) und Gordon Brown (Schatzkanzler 1997–2007, Premierminister 2007–2010) durchaus differenziert aus. So wuchs der Anteil des öffentlichen Sektors, wurde ein Mindestlohn eingeführt, verbesserten sich einige öffentliche Dienstleistungen, stiegen die Investitionen in den staatlichen Gesundheitsdienst an, warteten die Patient*innen wesentlich kürzer auf Operationen und Behandlungstermine als unter den vorherigen und auch den folgenden konservativen Regierungen. Schottland und Wales erhielten ab 1999 Autonomierechte.

Frieden in Nordirland

Blairs vielleicht größter langfristiger und durchaus auch persönlicher Erfolg war die Überwindung des nordirischen Bürgerkrieges (»The Troubles«), dem seit 1969 mehr als 3500 Menschen zum Opfer gefallen waren, durch das Karfreitagsabkommen 1998. Das St.-Andrews-Abkommen 2006 und die Bildung einer gemeinsamen Regierung der bisherigen Erzfeinde Ian Paisley (Democratic Unionist Party) und Martin McGuiness (Sinn Féin) 2007 rundeten den Prozess ab. So kalt und fragil der Frieden in Nordirland auch ist, so groß ist der Fortschritt im Vergleich zu den Jahrzehnten der systematischen Diskriminierung der irisch-katholischen Minderheit in Nordirland und den Schrecken des Bürgerkrieges.

Im Sommer 2007 machte Tony Blair schließlich widerwillig Platz für Gordon Brown. Es folgte die Finanzkrise ab 2008, die den Finanzmarktplatz London besonders stark traf. 2010 unterlag Gordon Brown gegen die Konservativen unter David Cameron, der das Image der »Tories« liberaler und moderner gestaltete, gleichzeitig aber zusammen mit seinem Schatzkanzler George Osborne eine beispiellose Spar- und Staatsabbaupolitik verfolgte, an deren Folgen Millionen von Brit*innen bis heute leiden. Die ökonomische, soziale und regionale Spaltung der Gesellschaft verstärkte sich massiv, womit der Boden für den Brexit und schließlich den Aufstieg Boris Johnsons bereitet wurde.

Nichtsdestotrotz hat die Labour Party mittlerweile vier Wahlen in Folge verloren. Insofern ist es verständlich, dass der jetzige Vorsitzende Keir Starmer sich wieder positiver auf Tony Blair, Clement Attlee und Harold Wilson (Premierminister 1964–1970 und 1974–1976) bezieht, die viele Wahlen gewinnen konnten. Es wäre der Partei freilich zu wünschen, dass sie sich eher an Attlee und Wilson orientiert, die in der Mitte des Labour-Spektrums standen und eine egalitäre Agenda verfolgten, als an Tony Blair.

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