- Politik
- Abtreibung
Ein Schritt in graue Vorzeit
In den USA können die Demokraten das Recht auf Schwangerschaftsabbruch trotz Mehrheit nicht sichern
Es war zwar lange erwartet, der Leak aus dem Obersten Gerichtshof in Washington schockiert in seiner Drastik dann doch: Der konservative Richter Samuel Alito hat eine Mehrheitsmeinung des Gerichts verfasst, die das Urteil Roe v. Wade von 1973 kippen soll. Das bestehende Recht auf Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche würde damit für nicht verfassungskonform erklärt und abgeschafft. Stattdessen könne jeder Bundesstaat die Rechte von Frauen und Föten abwägen, wie die gewählten Vertreter*innen des jeweiligen Bundesstaates es für richtig erachten, meint der Richter. Beinahe 50 Jahre Rechts- und Sozialgeschichte drohen von einer solchen Mehrheitsmeinung des Gerichts umgestürzt zu werden.
Wenn diese Entscheidung so veröffentlicht wird, drohen düstere Zeiten – vor allem, aber nicht nur für ungewollt schwangere Frauen. 23 US-Bundesstaaten haben bereits Gesetze verabschiedet, die sofort mit der offiziellen Verlautbarung des Urteils in Kraft treten würden. In Louisiana und Texas wären alle Abtreibungen verboten, außer wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr wäre. In Utah gäbe es zusätzliche Ausnahmen vom absoluten Verbot nach Vergewaltigung oder Inzest. In den letzten Jahren wurden die Gesetze in vielen Bundesstaaten verschärft, auch indem das Zeitfenster für Abtreibungen immer mehr verkleinert wurde. Das Gesetz in Mississippi, das Schwangerschaftsabbrüche nur bis zur 15. Woche erlaubt, ist zum Anlass für den möglichen Fall von Roe v. Wade geworden, da es der Oberste Gerichtshof zur Entscheidung angenommen hat, anstatt es sofort für Unrecht zu erklären.
Der Richter begründet in seinem Urteilsentwurf die bahnbrechende Entscheidung damit, dass die ursprüngliche Verfassung des 18. Jahrhunderts Abtreibung oder ein Recht auf Abtreibung nicht erwähnt. Mehr noch: Der 14. Zusatz zur Verfassung aus dem Jahr 1866, dessen Freiheits- und Gleichheitsgarantie das bisher bestehende Abtreibungsrecht untermauert, stamme aus einer Zeit, wo in drei Viertel der US-Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche verboten waren. Eine solche juristische Interpretation ist kein juristischer Mainstream, sondern so genannter Originalismus. Demnach soll nur verfassungsrechtlich geschützt sein, was wörtlich in der Verfassung steht. Alitos fundamentalistische Argumentationsweise kehrt so die moderne Geschichte des letzten halben Jahrhunderts um. Die Biden-Regierung warnte in einem Brief an das Gericht, dass diese Argumentation alle modernen Rechte gefährde, wie das Recht auf Verhütung oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Sarah Kate Ellis, die Präsidentin von GLAAD, einer großen US-amerikanischen Antidiskriminierungs-NGO für LGBTQI, warnte in einer Presseerklärung: »Niemand von uns ist noch sicher angesichts der extremen misogynen und gegen LGBTQ gerichteten Ideologie, die in diesem Gericht vorherrscht. Wir werden uns auf jede erdenkliche Weise zur Wehr setzen.«
Alito selbst behauptet im Entwurf explizit, dass sein Argument ausschließlich Abtreibungen betreffe. Mitch McConnell, der Oppositionsführer im Senat, behauptete, dass die Republikaner keineswegs ein nationales Abtreibungsverbot anstrebten. Doch die Reaktionen auf Alitos Entwurf lassen nicht auf eine Mäßigung hoffen.
In verschiedenen Bundesstaaten wie Mississippi und Louisiana gibt es Bestrebungen, Verhütung durch Spiralen oder künstliche Befruchtung als erweiterte Formen von Abtreibung zu ahnden, da auch dabei befruchtete Eizellen zerstört werden können. Kaum 48 Stunden nach Bekanntgabe von Alitos Text verabschiedeten die Republikaner in Louisiana eine Gesetzesinitiative: Schwangere, die versuchen, nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle eine Abtreibung durchzuführen, könnten wegen Totschlags oder Mordes angeklagt werden. Darauf steht lebenslängliche Haft oder sogar die Todesstrafe. »Keine Kompromisse, Schluss mit dem Abwarten«, sagte der Baptistenpastor und Unterstützer des Gesetzes, Brian Gunter aus Livingston der »New York Times«.
Knapp die Hälfte der US-Bundesstaaten wollen die Gesetze nach der neuen Rechtslage verschärfen. Das Guttmacher-Institut berechnete, dass nur 35 Prozent der gebärfähigen Frauen, das sind 24 Millionen Personen, in den liberalen Bundesstaaten leben. 58 Prozent dieser Bevölkerung, etwa 40 Millionen Personen, leben in Bundesstaaten, die restriktive Abtreibungsregeln haben oder planen. Die Neuregelungen werden dort die Armen und Unterprivilegierten am stärksten treffen. Afroamerikanische Frauen hatten im Jahr 2019 die höchste Abtreibungsrate mit rund 24 pro 1000, Latinas mit 12, weiße Frauen mit 7.
Auch Frauen, die nicht die Ressourcen haben, um für einen Schwangerschaftsabbruch eine Reise auf sich zu nehmen, werden benachteiligt. Nach Zahlen des Instituts, das das Recht auf Abtreibung unterstützt, muss eine ungewollt schwangere Person aus Mississippi heute durchschnittlich 250 Kilometer hin und zurück zur nächsten Abtreibungsklinik reisen, nach den neuen Gesetzen werden es wohl 1200 km sein.
In Oregon wurde bereits ein Gesetz erlassen, mit dem 15 Millionen Dollar bereitgestellt werden können, um die Kosten der ungewollt Schwangeren zu decken, die demnächst so weit reisen müssen. Auch Gavin Newsom, der demokratische Gouverneur von Kalifornien, hat angekündigt, seinen Staat zu einem »Sanctuary State« zu machen, in dem ungewollt Schwangere aus anderen Bundesstaaten Abbrüche bekommen können.
Ein Vorfall an der texanisch-mexikanischen Grenze Anfang des Jahres beleuchtet die moralische Panik, die in republikanischen Staaten um sich greift: Nach einer Fehlgeburt wurde die 26jährige Lizelle Herrera im Januar wegen Totschlages und selbst ausgeführter Abtreibung verhaftet und inhaftiert. Die feministische Initiative If/When/How bezahlte die Kaution von 500 000 Dollar und für den Rechtsbeistand Herreras. Bald war Herrera auf freiem Fuss, die Anklage wurde fallen gelassen.
Der Juraprofessor Stephen Vladeck von der Universität von Texas in Austin erläuterte der feministischen Zeitschrift »Ms.-Magazine« den Vorgang: Das Krankenhaus hatte die Fehlgeburt von Herrera den Behörden gemeldet; es fühlte sich nach der neuen Gesetzgebung dazu verpflichtet. Nach geltender Rechtslage hatten die dortigen Staatsanwält*innen allerdings keinerlei Befugnisse, Hererra zu verhaften. Dies ist für Vladeck ein untrügliches Zeichen dafür, dass manche Staatsanwält*innen und Polizist*innen nur noch auf eine Gesetzesverschärfung warten.
In Texas sind Abbrüche ab der sechsten Schwangerschaftswoche verboten – zu dem Zeitpunkt wissen viele Schwangere noch gar nicht, dass sie schwanger sind. Selbst im Fall einer Vergewaltigung oder bei Inzest sieht das Gesetz keine Ausnahmen vor. Zudem sollen Privatpersonen Ärzt*innen und Helfende verklagen, die bei einem Schwangerschaftsabbruch mitwirken. So können Eltern, Lebenspartner, Freunde oder Taxifahrer*innen belangt werden.
Solche Verhältnisse im Land erhöhen nun den Druck auf Biden, seine Macht ins Spiel zu bringen. Die Demokraten haben die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus und stellen den Präsidenten. Biden und der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, haben in dieser Woche einen allerdings eher symbolischen Versuch gemacht: Der Senat stimmte am Mittwoch über einen Gesetzesvorschlag ab, der das Recht auf Abtreibung auf Bundesebene verankert hätte. Mit 49 zu 51 Stimmen stimmten die Abgeordneten dagegen, die Vorlage überhaupt formell zur Abstimmung zuzulassen. Eine der Gegenstimmen gehörte dem Demokraten Joe Manchin aus West Virginia.
Die demokratische Partei richtet ihren Blick auf die Zwischenwahlen im November, für die sie sich eine Verbesserung der Stimmverhältnisse erhofft. Die feministische Bewegung und ihre Verbündeten sind dagegen jetzt auf der Straße, um die Verschlechterungen noch zu verhindern.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.