- Kultur
- Berliner Theatertreffen
Theater als therapeutische Anstalt
Irrer Waldtrip: »Die Ruhe« von Signa konfrontiert uns mit unseren Sehnsüchten
Es ist wirklich schwer auszuhalten, als der Arzt Glenn Hirschheimer sanft, aber bestimmt darauf drängt, ich müsse mich jetzt wirklich umziehen, damit er mich mit den anderen aus meiner Gruppe vor die Tür geleiten kann: Vor mir liegt eine junge Frau, die sich vor fünfeinhalb Stunden als Delia vorgestellt und mich mit vier anderen durch dunkle Gänge und rätselhafte Situationen geführt hat. Jetzt klammert sich Delia verzweifelt an meine Hand. »Bitte lass mich nicht allein«, fleht sie kaum hörbar. Ich weiß: Ich bin im Theater. Aber es fühlt sich an, als würde ich Delia einem ungewissen Schicksal überlassen müssen. Wie kann es sein, dass einem ein ganz fremder, ja ein fiktiver Mensch in ein paar Stunden in solch einem Maß ans Herz gewachsen ist?
»Die Ruhe«, die jüngste Produktion von Signa, im Rahmen des Berliner Theatertreffens in Hamburg zu sehen, feierte ihre Uraufführung im vergangenen November. Das Deutsche Schauspielhaus verspricht in seiner Ankündigung »eine umfassende Erholung von Trauma, Erschöpfung und Verwirrung«. Klingt verlockend, erst recht in diesen finsteren Zeiten, oder? Wer bräuchte nicht ein wenig Ruhe vor dieser deprimierenden Begleitmusik des kapitalistischen Alltags?
»Die Ruhe« scheint zu halten, was sie verspricht: Nach dem Einlass in ein ehemaliges Postgebäude in Hamburg-Altona geht es in einen Ruheraum, in dem wir gebeten werden, uns hinzulegen, die Augen zu schließen und durchzuatmen, während uns eine Stimme erklärt, wo wir sind: in einem Erholungszentrum, das uns auf das Leben im Wald vorbereiten soll. Das Publikum wird in Gruppen aufgeteilt und in uniforme Overalls gesteckt, bevor ein ziemlich irrer Trip durch die Räume des ehemaligen Postamts beginnt – tief hinein in die eigene Seele. Manche dürfen einen echten Regenwurm in den Mund nehmen, sofern sie dazu bereit sind. Andere lassen sich lebende Achatschnecken auf den nackten Bauch legen. Einige werden Zeuge von Schlägereien, Übergriffen – und wer ist eigentlich die keifende Alte, vor der sie hier alle Angst haben?
Wir stehen im Kreis und erzählen von unseren Ängsten und welches Waldtier wir gern wären. Manche müssen sich von einem mit Erde besudelten Mann ins Gesicht sagen lassen, es seien Frauen wie sie, die sein Leben zerstört hätten. Wir werden angeschrien, mit Waldsuppe bewirtet, während eine kleine Band mit zwei rätselhaften Sängerinnen traurige Lieder spielt. Wir müssen mit ansehen, wie sich Delia die Seele aus dem Leib kotzt, während ein Mann davon erzählt, wie er als Junge vergewaltigt wurde. Wir rauchen heimlich auf der Toilette, trinken Schnaps dazu, werden dafür von einem strengen Aufseher angeschnauzt, werfen in einem weiteren Raum mit Gummiaalen um uns, während wir dazu immer wieder das Wort »Verwandlung« brüllen. Zugegeben, das klingt abstrus, manches vielleicht lächerlich, es ist aber auch grenzwertig bis grenzüberschreitend, was da geschieht. In seiner inneren Logik ist es aber tatsächlich staunenswert präzise und in seiner impliziten Botschaft tief berührend. Das dänisch-österreichische Theaterkollektiv hat sich in den vergangenen gut 15 Jahren mit extrem aufwendigen, immersiven Langzeitinszenierungen an verlassenen Orten, aber auch mit einer radikalen, zur Mythenbildung einladenden Arbeitsweise einen geradezu legendären Ruf erarbeitet. Das Ensemble lebt gemeinsam über Monate zusammen am Ort der Inszenierung, auch zwischen den Vorstellungen, isoliert sich weitgehend von der Außenwelt. Diese Hermetik erfüllt einen künstlerischen Zweck: Vielleicht nur so können diese faszinierenden Parallelwelten entstehen, mit denen Signa das Performance-Theater auf eine ganz neue Dringlichkeitsebene gehievt hat.
Dabei ist es gar nicht so, dass diese geschlossene Welt jeglichen Anschein von Künstlichkeit vermiede. Wenn in der Kantine ein Chor mehr schlecht als recht von Waldsehnsucht singt, dürfte wohl kaum jemand glauben, dass das hier irgendwie »echt« ist. Und der »Waldtrakt«, in dem verzweifelte Gestalten in der Waldzweisamkeit und später Waldeinsamkeit auf die Einswerdung mit dem Wald warten, ist ganz eindeutig Theater im Theater. Aber auch, wenn man sich immer wieder bewusst wird, dass man sich in einem Spiel befindet, entsteht ein Sog, der auch fasziniert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass diese ganze Story für alle jeweils 30 Besucher*innen funktionieren muss, von denen jede*r einen zumindest in Einzelheiten anderen Abend erlebt. Dabei entsteht eine große, nicht nur körperliche Nähe zum Publikum. Das Entscheidende aber ist, dass eine Verbindung zwischen »echten« Menschen möglich wird, nämlich eine Gemeinschaft der Zuschauenden. Genau diese Begegnungen sind es, die dann ästhetisch und auch ganz praktisch über den Rahmen des Stücks hinausweisen. Die vor ein paar Stunden erst entstandenen Gruppen stehen nach der Vorstellung noch lange beisammen. Signa hat aus Fremden fast so etwas wie Freunde gemacht, Assoziationen freier Individuen, zumindest auf Zeit. Vor allem deswegen ist »Die Ruhe« wohl das Stück der Stunde, weniger wegen Dauerbrennern wie Klimakatastrophe und esoterischer Sinnsuche, die in die Inszenierung eingewoben sind.
Der Grundgedanke ist, im Gegensatz zum inszenatorischen und infrastrukturellen Aufwand, beinahe schlicht: Die Sehnsucht, eins mit Wald und Natur zu werden, ist die romantische Vorstellung, einen sinnhaften Ort in dieser Welt zu finden, über die eigene menschliche Existenz hinaus. Wofür die real existierende Gesellschaft offenbar nicht recht taugt. Dabei, das ist die therapeutische Wirkung dieser Anstalt, wird diese Sehnsucht nach einer geistigen Heimat, ob man sie nun intellektuell oder spirituell versteht, vielleicht vor allem dort befriedigt, wo man in menschliche Gemeinschaft gelangt. Wie sich allerlei Heilslehren daran nähren, führt die »Die Ruhe« plastisch vor – und verabreicht das Gegengift gleich mit. Delia auf dem Haufen Erde zurückzulassen, während sie flehend bittet, sie nicht alleinzulassen, das bricht mir fast das Herz – und ich bin nicht der Einzige, der in diesem teuflischen Erholungsheim Tränen in den Augen hat. Zum Glück weiß ich, dass sie »nur« eine Schauspielerin ist – und zum Glück bin ich nach diesem langen, seltsamen Trip nicht allein.
Vorstellungen im Rahmen des Theatertreffens: 18., 19. und 20. Mai
www.berlinerfestspiele.de
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.