Fünf Jahre Haft für KZ-Wächter gefordert

Oberstaatsanwalt sieht 101-jährigen Angeklagten Josef S. auch ohne Geständnis überführt

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.

Für Oberstaatsanwalt Cyrill Klement besteht »kein Zweifel«: Der Angeklagte Josef S., geboren am 16. November 1920 im litauischen Mariampol, habe von 1942 bis 1945 als Wachmann im KZ Sachsenhausen sowie kurz im Außenlager Haselhorst gedient und sich dabei der Beihilfe zum Mord an mindestens 3522 Häftlingen schuldig gemacht. Die Beweisaufnahme in dem seit vergangenem Oktober laufenden Verfahren, die Richter Udo Lechtermann am Dienstagmorgen geschlossen hat, habe die Vorwürfe »vollauf bestätigt«, führt Oberstaatsanwalt Klement in seinem sich anschließenden Plädoyer aus.

Der inzwischen 101-jährige Josef S. hat im Prozess bestritten, überhaupt SS-Mann gewesen zu sein. Stattdessen will er im fraglichen Zeitraum als Landarbeiter bei Pasewalk tätig gewesen sein. Im Konzentrationslager hätte er, da er damals kein Wort Deutsch gesprochen habe, die Befehle von Vorgesetzten doch gar nicht verstehen können, brachte Josef S. vor.

Oberstaatsanwalt Klement schildert am Dienstag, warum dies nicht glaubhaft sei. Einen SS-Schützen Josef S., dessen Führung von der SS als gut bewertet und der bis zum Rottenführer befördert wurde, hat es im KZ Sachenhausen nachweislich gegeben – geboren am 16. November 1920 in Mariampol. Einen zweiten SS-Schützen Josef S. habe es im gesamten KZ-System nicht gegeben.

Als die Sowjetunion 1940 das seinerzeit unabhängige Litauen besetzte, leistete Josef S. gerade seinen Wehrdienst in den litauischen Streitkräften und wurde in die Rote Armee übernommen. Als Rotarmist wurde er zum Serganten befördert. Doch Volksdeutsche wie die Familie von Josef S. durften im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts umsiedeln und das hat die Familie getan.

Die deutsche Einwandererzentralstelle stufte Josef S. in einer in der Nazizeit üblichen rassischen Beurteilung mit der Ziffer »römisch Zwei« ein, so Oberstaatsanwalt Klement. Das sei für ihn der Türöffner zur SS gewesen. Doch die Eltern, die nach dem Angriff Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion und der Eroberung Litauens durch die Wehrmacht gern zurückgekehrt wären, hätten dafür statt der Stufe A die Stufe O gebraucht. Das scheiterte an ihren mangelhaften Deutschkenntnissen. Sich zur SS zu melden, damit die Familie günstiger beurteilt wird, könnte ein Motiv von Josef S. gewesen sein, vermutet Klement. Im Schriftwechsel zur endlichen Einbürgerung der Eltern im Jahr 1943 ist mehrfach vermerkt, dass der Sohn Josef bei der SS sei. Quelle dieser Angaben waren sein Vater und seine Mutter.

Eine Sachverständige hat ein Jugendfoto des Angeklagten mit einem in den Akten überlieferten Bild verglichen und bei mehr als 100 Merkmalen eine Übereinstimmung festgestellt. Nur extrem wenig spricht dafür, dass die jeweils abgelichteten Personen nicht identisch sind.

Oberstaatsanwalt Klement betont, es habe Sprachunterricht bereits im Umsiedlungslager und dann auch in der 9. Wachkompanie von Sachsenhausen gegeben, in der Josef S. diente. »Das ist Quatsch, dass Sie kein Deutsch konnten«, wendet sich Klement an den Angeklagten. Josef S. habe bei seinem Zwischenspiel als sowjetischer Soldat in kürzester Zeit Russisch gelernt, also habe er dann später auch Deutsch gelernt und die Sprache im KZ Sachsenhausen verstanden. Am 18. Februar ist der in den Akten verbürgte Rottenführer Josef S. in eine Division der Waffen-SS versetzt und an die Front geschickt worden. Er geriet in Kriegsgefangenschaft, dann verliert sich seine Spur.

»Das alles, Herr Angeklagter, ist keine Theorie«, so Klement. Es passe alles zu dem Angeklagten Josef S., der 1985 in der DDR, als es um seine Rente ging, ein Formular zu seinem Werdegang unterschieb. Darin ist angegeben, er habe von 1940 bis 1945 Wehr- und Kriegsdienst geleistet. Dass dies wegen immer noch schlechter Deutschkenntnisse jemand für ihn niederschrieb und er nicht gewusst habe, was er da unterzeichnete, hält Oberstaatsanwalt Klement für eine Ausrede. Alles andere habe ja auch präzise gestimmt. Dagegen die Behauptung, im Zweiten Weltkrieg Landarbeiter bei Pasewalk gewesen zu sein – das habe Josef S. dem Gericht »inhaltsleer« geschildert. Fest steht, dass seine Familie damals bei Pasewalk lebte und von dort 1943 meldete, der Sohn sei bei der SS. Im Ermittlungsverfahren vor dem Gerichtsprozess hatte Josef S. noch verlangt, man solle ihm ins Litauische übersetzen, da er nicht genug Deutsch könne, erinnert Klement. Nun habe er aber dem Gerichtsprozess ohne Übersetzung sehr wohl folgen können. Klement vermutet, der Angeklagte habe sich wie viele andere Täter nach dem Krieg seine Wahrheit so zurechtgelegt, dass er damit leben konnte.

Konkret wirft Klement Josef S. unter anderem Beihilfe zum Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen im Jahr 1942 vor. Mehr als 10 000 Häftlinge wurden damals durch Genickschüsse getötet. »Wir können davon ausgehen, dass die 9. Kompanie sehr nah dran war an den Erschießungen«, führt Klement aus. Jedem Soldaten – und Josef S. war Soldat – müsse klar gewesen sein, dass die Ermordnung von Kriegsgefangenen ein Verbrechen sei. Die Genickschüsse qualifizierte Klement als »heimtückischen Mord«.

Ein Geständnis sei nicht erforderlich, um den Angeklagten zu überführen, versichert Klement. Ohne dass dieser sich zu den Taten äußert, sei es aber schwierig, mildernde Umstände geltend zu machen. Sicher sei es viel verlangt von einem damals noch sehr jungen Menschen, sich von der Rasseideologie der Faschisten abzuwenden und Befehle zu verweigern. Aber er hätte sich versetzen lassen können. Solche Fälle habe es gegeben. Niemand sei gezwungen gewesen, als Wachmann im KZ zu dienen. Man konnte sich an die Front melden. »Es gibt keinen dokumentierten Versuch, da wegzukommen.«

Über die Gewaltaffinität in der 9. Kompanie des Wachbataillons, über die Genickschüsse und die Vergasung von Häftlingen müsse der SS-Mann informiert gewesen sein, über die lebensfeindlichen Bedingungen im Lager sowieso, meint Klement. Von den Wachtürmen waren die Baracken und auch die Genickschussanlage und die Tötungsstation Z einzusehen.

Für den Angeklagten spricht aus Sicht von Klement, dass er sich trotz seines hohen Alters dem Verfahren stellte und auch nach einer Corona-Erkrankung und einer Operation am Fuß in die zum Verhandlungssaal umfunktionierte Turnhalle an der Max-Josef-Metzger-Straße in Brandenburg/Havel zurückkehrte. Für ihn spricht auch, dass er nach dem Krieg als unbescholtener Mann gelebt hat. Sein Strafregister enthält bisher keinerlei Eintragungen.

»Sie lügen nach meinem Dafürhalten, was ihre Beteiligung am Geschehen im KZ Sachsenhausen betrifft«, schließt Klement und fordert fünf Jahre Haft. Danach unterbricht Richter Udo Lechtermann die Verhandlung bis kommenden Montag. Dann wird mit den Plädoyers der Anwälte der Nebenkläger fortgesetzt. Einer von ihnen, Thomas Walther, nennt das von der Staatsanwaltschaft genannte Strafmaß »fünf Jahre Freiheitsstrafe durchaus angemessen«. Ob das Urteil rechtskräftig wird und noch vollstreckt werden kann, ist jedoch fraglich – niemand weiß, wie lange der Angeklagte noch lebt, sei eine andere Sache. Kommentar

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