- Berlin
- Protest gegen Aufrüstung
Steuergeld für Bildung statt Bomben
Grüne Jugend fragt Passanten in Potsdam, wofür der Bund 100 Milliarden Euro ausgeben sollte
Elf Nullen hat Anna Emmendörfer mit Sprühkreide auf die Brandenburger Straße in Potsdam gemalt. Bevor die Landessprecherin der Grünen Jugend für die nächste Ziffer ansetzt, ruft ihr Amtsvorgänger Robert Funke: »Keine Null mehr, nur noch eine Eins.« Und so steht dann als Zahl aufgeschrieben »100 Milliarden« auf dem Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone.
100 Milliarden Euro – diese Summe will die rot-grün-gelbe Bundesregierung in ein Sondervermögen geben, um damit die Aufrüstung der Bundeswehr zu finanzieren. Das ist eine Zeitenwende. So hat es Kanzler Olaf Scholz (SPD) in einer Rede vor dem Bundestag am 27. Februar gesagt. Immer fehlt an allen Ecken und Enden Geld in der Bundesrepublik und nun soll es plötzlich für die Streitkräfte herbeigezaubert werden – als Reaktion auf den am 24. Februar erfolgten russischen Angriff auf die Ukraine.
»Wir halten das für ein falsches Signal, mit einer großen runden Zahl vermeintliche Stärke zu zeigen«, beschwert sich Timon Dzienus. Er stammt aus Hannover, wohnt jetzt aber in Berlin und arbeitet dort nach eigener Auskunft »ehrenamtlich, aber Vollzeit« als Bundessprecher der Grünen Jugend. Das Geld aus dem Sondervermögen solle auch gar nicht sofort ausgegeben werden, teilweise erst in 20 Jahren, argumentiert Dzenius. In der aktuellen Bedrohungssituation bringe das also überhaupt nichts. Wenn die Bundeswehr wirklich etwas benötige, müsste seriös durchgerechnet werden, was das alles zusammen kostet. Das sei aber nicht geschehen.
Landessprecherin Emmendörffer ergänzt: »Die geplante Hochrüstung im Wert von 100 Milliarden Euro ist eine klimaschädliche und menschenfeindliche Unternehmung. Wir unterstützen keine reaktionäre Hochrüstungsspirale, die nur zu größeren Kriegen führt.« Emmendörffer, Dzienus und ihre Mitstreiter – in Potsdam beteiligen sich sechs junge Frauen und vier junge Männer an der Straßenaktion – können sich eine bessere Verwendung für das viele Geld vorstellen.
Nun fragen sie am frühen Mittwochabend Passanten, was diese mit 100 Milliarden Euro anstellen würden. Viele alte und junge Menschen gehen auf das Angebot ein, ihre persönliche Idee auf einen Zettel zu schreiben, der dann an eine mitgebrachte Tafel geheftet wird. »100 Milliarden für …« steht auf dem Vordruck. Die Leute ergänzen: erneuerbare Energien, sozialen Wohnungsbau, Kinderbetreuung, Bildung, Tierschutz, kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehr für alle und so weiter. Ein Spaßvogel schreibt: Sterni – und meint damit die nicht nur bei Punkern beliebte Biermarke. Eine ältere Dame notiert schlicht: Frieden. Das tun später auch noch andere. Zettel mit denselben Begriffen werden übereinander geklebt, weil sonst schnell kein Platz mehr wäre auf der Tafel.
Einige Angesprochene wollen sich nicht beteiligen, haben keine Zeit dafür oder halten die Aktion für leider zwecklos. Aber im Verlauf von zwei Stunden äußert nicht einer, dass er dafür sei, die 100 Milliarden Euro in die Aufrüstung zu stecken. Das wundert die Grüne Jugend selbst. Ihr Bundessprecher Timon Dzienus hätte damit gerechnet, von dem einen oder anderen böse angepöbelt zu werden. Doch nichts dergleichen geschieht. Nur ein Bauarbeiter meckert über das Bemalen des Kopfsteinpflasters, lästert: »Das ist doch Umweltverschmutzung.« Doch der Arbeiter irrt sich. Auch wenn die Sprühdosen so aussehen, als ob sie Lacke enthalten – tatsächlich ist es bloß Kreide, die vom nächsten Regen rückstandsfrei abgewaschen wird.
Sogar ein zufällig vorbeikommender Soldat äußert Verständnis, ja sogar eine gewisse Sympathie für die Aktion. Er trägt Zivilkleidung und löffelt ein Eis, gibt sich aber gleich zu erkennen, als er angesprochen wird, wie die 100 Milliarden Euro besser verwendet wären als für die Truppe. »Das ist ein bisschen komisch, das ausgerechnet einen Berufsoffizier der Bundeswehr zu fragen«, schmunzelt er. Für mindestens zwölf Jahre im Sanitätsdienst hat er sich verpflichtet. »Wenn ich mir meine Ausrüstung anschaue, denke ich schon, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht«, sagt der junge Mann. Aber: »Es gibt auf jeden Fall Möglichkeiten, 100 Milliarden sinnvoll anders auszugeben.« Sicherheit entstehe ja nicht nur durch das Militär, die Bevölkerung könne und müsste auch auf andere Weise geschützt und widerstandsfähig gemacht werden. Bei Katastrophen benötige man beispielsweise funktionierende Krankenhäuser und die Freiwillige Feuerwehr. Bildung hält der Offizier auch für wichtig. »Die Feinde der Demokratie, die mittlerweile in unseren Parlamenten sitzen, wird man da langfristig nur mit Bildung rauskriegen.«
Es sei legitim, wenn die Gesellschaft über das Sondervermögen diskutiert, und es sei nachvollziehbar, wenn dagegen protestiert wird, bestätigt der Berufssoldat. Persönlich hat er im Moment keine Angst, in den Krieg ziehen zu müssen. »Im Kreml sitzen keine Suizidsüchtigen«, vermutet er. Russland werde sich nicht mit der Nato anlegen, solange die USA zu ihren europäischen Verbündeten halten.
Wenn so viele Menschen und sogar ein Berufssoldat Verständnis für das Anliegen der Grünen Jugend haben, dann kann Sprecher Dzienus sehr zufrieden sein. »Toll gemacht. Ich werde das anderen Ortsverbänden zur Nachahmung empfehlen«, lobt er seine Potsdamer Mitstreiter. Wie viele der mehr als 150 Ortsverbände sich an der vom Bundesvorstand angeregten Kampagne beteiligen, darüber hat er keinen Überblick. In Brandenburg ist die Aktion in Potsdam die erste. Eine weitere ist in Frankfurt (Oder) geplant. Ursprünglich sollte der Bundestag das Sondervermögen am Freitag beschließen. Die Abstimmung wurde allerdings verschoben und so kann die Kampagne fortgesetzt werden.
Im Länderrat der Mutterpartei hatte die Grüne Jugend einen Antrag gegen das Sondervermögen gestellt. Der Länderrat lehnte dies zwar ab. Aber immerhin stimmten 40 Prozent der Delegierten für den Vorstoß. Der 21-jährige Robert Funke ist Realist. Das Sondervermögen werde kommen, erwartet er. Doch vielleicht lasse sich noch verhindern, dass die gesamte Summe dem Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellt wird.
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