Leipzig holt den ersten Titel, Freiburg feiert trotzdem

RB gewinnt gegen den SC im Elfmeterschießen den DFB-Pokal

  • Noah Kohn
  • Lesedauer: 5 Min.
Jubel trotz Niederlage: Trainer Christian Streich (v.) und die Freiburger Fans.
Jubel trotz Niederlage: Trainer Christian Streich (v.) und die Freiburger Fans.

Das 79. DFB-Pokalfinale war gerade entschieden, die Sieger aus Leipzig lagen sich in den Armen und die Freiburger bedankten sich in der Kurve bei ihren mitgereisten Fans, als es im dröhnenden Berliner Olympiastadion auf einmal ruhig wurde: Sanitäter eilten zum Spielfeldrand – ein Mensch war zusammengebrochen. Mit großen Decken wurde ein leblos wirkender Körper von den Blicken des Publikums abgeschirmt, erste Reanimationsmaßnahmen begannen sofort. In einem Lichtermeer aus Handylampen anteilnehmender Zuschauer bangte das ganze Stadion, bis der Stadionsprecher nach rund 20 Minuten Entwarnung gab: Die Person sei »stabil« – es folgte ein kollektives Aufatmen auf den Rängen und riesiger Jubel.

Bis dahin hatten die 74 322 Zuschauer einen packenden Pokalkrimi zwischen RB Leipzig und dem SC Freiburg gesehen. Das erste Endspiel ohne Beteilung des FC Bayern oder von Borussia Dortmund seit elf Jahren ging mit einem 1:1 in die torlose Verlängerung, im anschließenden Elfmeterschießen zeigten die Freiburger Nerven: SC-Kapitän Christian Günter jagte den Ball übers Tor Richtung Maifeld, sein Mitspieler Ermedin Demirović traf nur die Latte – und weil zuvor alle vier Leipziger verwandelt hatten, war bereits nach acht Elfmetern Schluss. 4:2 für Leipzig.

»Ich schaffe es nicht, mich zu ärgern«, gab Freiburgs Trainer Christian Streich nach dem Spiel einen Einblick in seine Gefühlswelt, »gegen so eine tolle Mannschaft erst im Elfmeterschießen zu verlieren, das ist okay.« Dabei hätte es durchaus Gründe zum Ärgern gegeben für den Fußballlehrer, der seit mehr als zehn Jahren die Freiburger Profis trainiert. Denn der SC wirkte konzentrierter, ging sogar früh durch Maximilian Eggestein (19. Minute) in Führung und zwang Leipzig immer wieder zu Fehlern im Spielaufbau. Es sah nicht danach aus, als würden die Sachsen in ihrem dritten Pokalendspiel nach den Niederlagen gegen Bayern München 2019 (0:3) und Borussia Dortmund im letzten Jahr (1:4) nun gegen Streich und sein Team den ersten Titel der Vereinsgeschichte holen.

»Super« sei die erste Halbzeit gewesen, fand auch Streich. Und die zweite begann umso verheißungsvoller für die Breisgauer: Stürmer Lucas Höler enteilte dem Leipziger Marcel Halstenberg (57.), dem nur noch die Notbremse blieb, um das 0:2 zu verhindern – die vermeintliche Vorentscheidung an diesem langen Pokalabend. Doch die rote Karte war wie ein Weckruf für das RB-Team, das auf einmal wieder anfing, Fußball zu spielen. Und Freiburg hatte plötzlich »ein ganz klein bisschen Angst«, wie Streich später feststellte.

Zu viel Angst für die nun erwachten Sachsen: Angepeitscht von den Fans und den Spielern auf der Bank übernahm Leipzig die Spielkontrolle. »Ich glaube, dass die Mannschaft mehrmals bewiesen hat, dass sie Charakter hat, dass sie Mentalität hat«, analysierte RB-Trainer Domenico Tedesco die Willensleistung seines Teams. Mit Nordi Mukiele, Dominik Szoboszlai (beide 61.) und Dani Olmo (69.) konnte der 36-Jährige zudem noch einmal viel Qualität ins Spiel einwechseln: »Die Spieler, die reinkamen, haben es sehr gut gemacht«, lobte Tedesco.

Dass der Ausgleich durch Christopher Nkunku (76.) fiel, passt zur ganzen Leipziger Saison: Während der Start in der Bundesliga holprig verlief und Jesse Marsch den Trainerposten kostete, war es immer Nkunku, der den Anhängern des Klubs aus Sachsen Hoffnung auf den ersten Vereinstitel seit der Gründung im Jahr 2009 gab. Mit nun wettbewerbsübergreifend 35 Toren und 20 Vorlagen in 51 Pflichtspielen war der Franzose auch an diesem Pokalabend wieder der beste Akteur auf dem Feld. Als am Sonntagnachmittag die Fans auf dem Leipziger Rathausplatz zusammenkamen, um ihre Pokalhelden zu feiern, bekam der 24-jährige Nkunku besonderen Applaus der Anhänger.

Während Tedesco »überglücklich« war und auch seinen ersten Titel als Trainer »gar nicht so richtig realisieren« konnte, erfasste seinen Trainerkollegen doch etwas Wehmut. Zu nah dran waren die Freiburger am größten Triumph ihrer Historie – und wer weiß, wie lange man im Breisgau auf die nächste Möglichkeit warten muss. Doch der Zusammenhalt in der Mannschaft und die 30 000 Freiburger Fans, die nach Spielschluss mindestens genauso laut wie die Leipziger Anhänger ihre Mannschaft feierten, nötigten Streich eine unneigennützige Einsicht ab: »Wenn du dir das bewahren könntest in diesem Verein – das wäre mein größter Wunsch, da verzichte ich gerne auf einen Pokalsieg, auch wenn es schwerfällt.«

Wieder einmal war es also Streich, der an diesem denkwürdigen Pokalabend die richtigen Worte fand und neben all den sportlichen Ambitionen nicht den Blick auf das Wesentliche verlor: Es gehört mehr zum Fußball als nur Titel und Trophäen. Und so kam im Olympiastadion, nachdem der medizinische Notfall für eine Verzögerung gesorgt hatte, bei der Siegerehrung keine allzu ausgelassene Stimmung mehr auf – trotz goldenem Konfettiregen und euphorischer Stadionmusik.

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