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Der Unscheinbarste setzt sich durch
Jai Hindley sichert dem umgebauten deutschen Bora-Team beim Giro den ersten großen Rundfahrtsieg
Jai Hindley fuhr im rosa Trikot, mit rosa Helm und auf einem rosa Rad in das antike Amphitheater ein und konnte sich für seinen Sieg beim Giro d’Italia feiern lassen. Ein ganzer Kontinent feierte gleich mit, schließlich ist Hindley der erste Australier, der die Italienrundfahrt gewinnen konnte. Einen deutschen Sieger gibt es bislang nicht. Bei seiner einzigen Teilnahme im Mai 2006 gab Jan Ullrich vorzeitig auf. Damals ploppten erste Gerüchte über die Dopingermittlung »Operacion Puerto« in Spanien auf, und Ullrich stieg schnell in ein Teamfahrzeug, bevor »nd« ihn damals am Rande des Rennens dazu befragen konnte.
Dennoch ist der Giro anno 2022 auch eine deutsche Erfolgsgeschichte. Denn mit Bora-hansgrohe hat erstmals ein deutsches Profiteam mit einem seiner Fahrer den Giro gewonnen. Abzusehen war das nicht: »Wir sind mit dem Ziel hergekommen, um unter die besten Fünf zu kommen, maximal einen Podiumsplatz zu erreichen. Dann aber ist das Rennen so gelaufen, dass wir um den Sieg mitfuhren«, blickte Boras sportlicher Leiter Jens Zemke gegenüber »nd« auf die vergangenen drei Wochen zurück. Der Erfolg hat offensichtlich auch die kühnsten Erwartungen übertroffen.
Völlig ungeplant war er aber natürlich auch nicht. Der Rennstall aus Raubling hat sich in der Winterpause komplett umgebaut: Der dreifache Weltmeister Peter Sagan, der erste große Star, den das Team jemals hatte, und dessen Siege Bora über Jahre immer wieder Ruhe verschafften, erhielt einen Laufpass. Stattdessen holte das Team vornehmlich junge Rundfahrttalente und ersetzte Sagan in der Abteilung Sprint mit dem irischen Rückkehrer Sam Bennett.
Zur neuen Garde jener jungen Rundfahrer gehörte auch der aktuelle Giro-Sieger Hindley. Dabei galt er allerdings als der unscheinbarste von ihnen. Mehr Potenzial traute man dem Russen Alexander Wlassow zu, spektakulärer fährt der Kolumbianer Sergio Higuita durch die Berge. Hindley aber war der erste der Neuen, der zu einer Grand Tour antrat – und umgehend ablieferte.
Das sorgt nun für gesteigerte Erwartungen, auch innerhalb der Mannschaft: »Alex ist ja auch extrem gut unterwegs bisher. Ich denke, der hat Möglichkeiten, ums Podium bei der Tour mitzufahren«, sagte Emanuel Buchmann über Wlassow, den designierten russischen Tour-de-France-Kapitän seines Rennstalls. So klar wurde das Ziel Tourpodium in der Vergangenheit bei Bora noch nie umrissen. Natürlich, Buchmann, dem Tour-Vierten von 2019, hatte man es gewünscht. Man hat es ihm auch zugetraut, unter der Bedingung, dass für ihn alles gut läuft, dass er sich prima verstecken kann im Feld der Besten, Kräfte spart und dann irgendwie vorn mit ankommt.
Aber mit den neuen Fahrern ist auch ein neuer Geist eingezogen. Bora will die Rennen jetzt bestimmen. An zwei Tagen dieses Giro zeigte sich diese neue Haltung besonders deutlich. Am Samstag der vorletzten Woche zerlegte eine Kollektivattacke von fünf eigenen Fahrern schon 80 Kilometer vor dem Ziel in Turin das Feld der Favoriten. Nur ein gutes Dutzend konnte noch folgen, und Hindley saß nach dem Coup schon auf Platz zwei der Gesamtwertung, nur wenige Sekunden hinter Olympiasieger Richard Carapaz aus Ecuador. »Dieser Tag hat dem gesamten Team viel Selbstvertrauen gegeben. Wir haben gesehen, wenn wir selbst eine Aktion starten, können wir andere Mannschaften in Bedrängnis bringen«, bilanzierte Zemke später.
Dies war also die Gesellenprüfung als neue Rundfahrtmannschaft. Das Meisterzertifikat erwarb sich die Bora-Truppe eine Woche später, bei der Königsetappe über drei Dolomitenpässe. Der instinktsichere Lennard Kämna schaffte den Sprung in die Fluchtgruppe des 20. und damit vorletzten Tagesabschnitts. Er war während des gesamten Giro der aktivste Ausreißer der Mannschaft, sorgte mit seinem frühen Etappensieg am Ätna zudem für eine entspannte Atmosphäre.
In der Schlussphase der 20. Etappe ließ sich der Norddeutsche dann taktisch clever aus der Fluchtgruppe zurückfallen: »Er kam in genau dem richtigen Moment. Er wartete auf mich, ging in die Führung und gab mir mit seinem Antritt den Schub, der es mir ermöglichte, von Carapaz wegzufahren«, fasste Hindley danach die den Giro entscheidende Rennsituation zusammen. Klar, der Australier musste danach noch selbst kurbeln, ganz allein anderthalb Minuten auf Carapaz herausfahren und ins rosa Trikot des Gesamtführenden schlüpfen. Aber dass er überhaupt die Lücke reißen konnte, war Frucht einer gut durchdachten Teamtaktik.
Hier machte sich auch ein Wechsel in der sportlichen Leitung bezahlt. Als Mastermind stellte sich Neuzugang Enrico Gasparotto heraus. Der Italiener war als Rennfahrer kein Übertalent. Er machte aber sehr viel aus seinen beschränkten Möglichkeiten, gewann zweimal eher überraschend das Amstel Gold Race. Gasparotto heckte die Überfalltaktik der Turin-Etappe aus. Und auch in den Dolomiten sorgte er fürs perfekte Timing bei Kämnas Hilfe.
Generell muss man den Strategiewechsel bei Bora hin zu einer aggressiveren Fahrweise aber wohl dem neuen Sportdirektor Rolf Aldag zuschreiben. Aldag übernimmt dann auch bei der Tour de France den Job im Begleitwagen. Der ist komplexer: »Bei der Tour haben wir ja noch Sam Bennett, der vor zwei Jahren das Grüne Trikot gewann und auf Etappenjagd bei den Sprints gehen wird. Das ist dann Rolfs Baustelle«, blickt Giro-Betreuer Zemke bereits auf den Juli voraus. In Frankeich will Bora also die Balance zwischen Sprint und Gesamtklassement finden. Das ist so etwas wie die Doktorarbeit im Straßenradsport. Damit ist das 2010 als kleines Continental Team namens NetApp mit bescheidenem Budget gegründete Profiteam auf dem Weg in eine ganz neue Dimension.
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