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Radikal, eigensinnig, unbeirrbar
Sven Hanuschek hat die erste große Arno-Schmidt-Biografie verfasst
Der Ruhm kam Anfang 1970 mit »Zettels Traum«, diesem Monstrum von einem Buch, 17 Pfund schwer, 33 Zentimeter breit, 44 Zentimeter hoch, 1330 Seiten im Format DIN A3, geschätzte 10 Millionen Buchstaben, dreispaltig gedruckt als faksimiliertes Typoskript mit allen Einschüben, Tilgungen, Korrekturen und Randbemerkungen, alle 2000 Exemplare von Arno Schmidt im Impressum signiert. Der Preis exorbitant: Die Subskribenten zahlten 295 D-Mark. Der Normalpreis von 345 Mark, den der Stahlberg-Verlag festgelegt hatte, wurde nicht erreicht. Alle Zeitungen, schrieb Ehefrau Alice stolz an Mutter und Schwester, berichteten.
Die Exemplare waren bald verkauft, plötzlich gab es auch einen verkleinerten Raubdruck, zum Ärger des Autors, aber immerhin waren die Schmidts nun ihre finanziellen Sorgen los. Nur hatte der Meister in den vier Jahren, die sein Werk brauchte, bei einer täglichen Arbeitszeit von 14, oft sogar 18 Stunden, einer Büchse Pulverkaffee am Tag und sechs Flaschen Korn oder Weinbrand in der Woche auch seine Gesundheit ruiniert. Dass er diese Tortur überleben würde, hatte er selber nicht gedacht.
Wenn Sven Hanuschek in seiner Biografie auf »Zettels Traum« zu sprechen kommt, Entstehung, Mühen, Inhalt und Resonanz des Werkes beschreibt, liegen schon 720 Druckseiten hinter ihm. Beinahe 1000 sind es, wenn er seine Erzählung schließt. Er ist Schmidt-Leser seit vier Jahrzehnten, einer von den vielen, die auf ihren Autor nichts kommen lassen, und er kann für sein Buch aus dem Vollen schöpfen. Zweimal im Jahr fuhr er für mehrere Wochen nach Bargfeld, wo ihm alles zur Verfügung stand, was das Archiv hergibt, darunter die üppige Leserpost; zudem leben ja immer noch Leute, die etwas wissen, was man nirgendwo nachlesen kann, die Haushälterin Erika Knopp etwa oder Jan Philipp Reemtsma, der Mäzen, der einst mit einer Summe half, die in der Höhe ungefähr dem Nobelpreis für Literatur entsprach, und der 1981 gemeinsam mit der Witwe auch die Arno-Schmidt-Stiftung ins Leben rief.
Hanuschek übertrifft alles, was uns bisher über den Einzelgänger, der sich immer mehr in seine Arbeit vergrub und zuletzt kaum noch sein Refugium verließ, vor Augen und zu Ohren kam. Er folgt der Lebensgeschichte streng chronologisch, wirft auch lange, intensive Blicke aufs Werk und offenbart sein enormes Detailwissen schon, wenn er von Schmidts kleinbürgerlicher Herkunft berichtet. Otto Schmidt, der Vater, war 1900 noch an der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes in China beteiligt, wurde Polizist und später entlassen, weil er eine 16-Jährige verführt hatte, die er dann heiratete und die 1914 mit Arno ihr zweites Kind zur Welt brachte. Die Ehe der Eltern war von starker Sexualisierung, ständigen Seitensprüngen, »rohen Eindeutigkeiten« und fünf oder sechs Schwangerschaftsabbrüchen geprägt.
Der Junge rettete sich in die Literatur, konnte, wie er behauptete, schon mit drei Jahren lesen, verschlang mit sechs Jules Vernes »Reise zum Mittelpunkt der Erde«. Es war der Beginn einer Liebe, die sich nicht mehr verlor. Der erste, nicht vollendete Prosatext, der erhalten blieb, beschreibt 1937 den Besuch in einem Antiquariat und feiert den »ewigen Zauber der Bücher, jene krankhafte, unwiderstehliche Sucht, die jeder Bibliophile kennt: die Lust, all diese zahllosen Werke zu sehen, zu riechen – ja, zu riechen«. 1940, als 26-jähriger Soldat, verfasste er in der Hirschberger Artilleriekaserne den größten Teil seiner »Dichtergespräche im Elysium«, eine Verbeugung vor den verehrten Poeten von Homer und Cervantes bis zu Wieland und Dickens, festgehalten in schöner Sütterlinschrift und als Weihnachtsgeschenk seiner Frau Alice zugedacht.
Hanuscheks monumentale Biografie, die erste nach Wolfgang Martynkewicz’ schmaler Rowohlt-Monografie von 1992, ist immer nah bei Arno Schmidt. Ganz nah und ohne mal über den Tellerrand zu schauen. Beschrieben wird mit beeindruckender Intensität, wie Schmidt wegen seiner Kurzsichtigkeit den Krieg in einer Schreibstube überstand, wie er seine Frau fand und lange nicht wusste, ob er sich der Mathematik oder der Literatur widmen sollte, wie er nach 1945 aus der Armut nicht herauskam und jedesmal fluchte, wenn ihm ein Verleger nicht einmal antwortete, und wie er verbissen weitermachte, immer weiter, oft bis zur totalen Erschöpfung.
Man erfährt unglaublich viel über ihn in diesem Buch, mehr als in anderen, etwa über die schweren, mühsamen Jahre des Anfangs, die bescheidenen Behausungen, das karge Leben, die Brotarbeit fürs Radio, über seinen Humor, die Schulden, die Gesundheit (immer wieder das Herz), seine Launen, seinen Starrsinn, seine wunderbare Frau Alice, die Nachbarn in Bargfeld, die Freundschaften oder die Animositäten. Alles ist da und wird geduldig und mit Akribie ausgebreitet. Hanuschek malt hingebungsvoll das Porträt eines Außergewöhnlichen, er gibt sich dabei so sachlich wie möglich und bleibt noch, wenn die weniger angenehmen Charaktereigenschaften zur Sprache kommen, fest an seiner Seite.
In der deutschen Literatur ist Arno Schmidt ein Solitär ohne Beispiel, eigensinnig, radikal, kompromisslos in jeder Hinsicht, angriffslustig und unbeirrbar. Er rückte der Restauration in der Bundesrepublik so unerbittlich, unversöhnlich zu Leibe wie kein anderer, attackierte Staat, Kirche und Militär, die Wiederaufrüstung und Bigotterie, die Neureichen und die Nazis, die wieder unbehelligt in den Ämtern saßen. »Das Steinerne Herz« von 1956 war der erste Roman, der sich mit den Zuständen in beiden deutschen Staaten auseinandersetzte – und dies mit einer politischen (und erotischen) Direktheit, auch einigem Wohlwollen gegenüber der DDR, dass der Stahlberg-Verlag sich nicht traute, ihn unzensiert zu drucken. Als er, arg verstümmelt, dann doch veröffentlicht wurde, ist er noch in der entschärften Fassung ein Opfer des Staatsanwalts sowie einer aufgebrachten Presse und Kritik geworden.
Schon 1955, nach Erscheinen der Liebesgeschichte »Seelandschaft mit Pocahontas«, hat man Arno Schmidt vor Gericht gezerrt. Hanuschek, der die Verrisse des Romans »Das Steinerne Herz« mit einigen Pressestimmen dokumentiert (»ein wirres, ekles Gestammel, ein pathologisches Gekritzel«, so Hans Habe), vermeidet es allerdings, Schmidts Kollisionen mit der Kritik und Justiz der Bundesrepublik ins politische Klima jener Jahre einzubetten. Ein einziges Mal nur kommt der Geist der Adenauer-Ära zur Sprache, und da verschanzt sich Hanuschek gleich hinter einem Urteil des Publizisten und Kritikers Schwab-Felisch, der 1964 die Kultur- und Kunstfeindlichkeit der Regierungen unter Adenauer vehement bestritt; sie seien allenfalls kunstfremd.
»Wie wär’s«, schrieb Arno Schmidt, der zuweilen ans Auswandern dachte, 1953 an Alfred Andersch, »wenn wir eine Dichterkolonie in Kanada gründen würden?? (Im Ernst!!)« Deutschland, fügte er hinzu, wäre alle unerwünschten, »unruhigen Köpfe« los, »und wir hätten endlich Ruhe«.
Sven Hanuschek: Arno Schmidt. Carl Hanser, 990 S., geb., 45 €.
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