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Die Verwandlung des Affenfelsens
Die Hamburger Lenzsiedlung ist schon lange kein Problemkiez mehr
Es grünt in der Hochhausschlucht. Kinder fahren auf Tretrollern vorbei, auf einer Bank am Spielplatz plaudern zwei junge Frauen. Es ist ruhig, stiller als vielerorts in der Stadt, denn der Verkehrslärm fehlt. Auf der Julius-Vosseler-Straße sind nur Anlieger unterwegs, und das Straßenrauschen von Lenzweg und Eidelstedter Weg wird durch die Gebäude gedämpft.
Am Fuße eines Wohnblocks führen eine Polizistin und ein Polizist eine dunkelhäutige Frau ab. Jedenfalls sieht es so aus. Doch am Durchgang zur Straße biegen sie nicht ab, um die mutmaßliche Delinquentin in einen Streifenwagen zu verfrachten. Vielmehr drehen die drei Akteure um und spielen die Szene noch einmal. Diesmal mit Kamera und Ton.
An diesem ganz gewöhnlichen Donnerstag wird für das Fernsehpublikum ein Klischee mit drei Elementen vorgespielt: Hochhaussiedlung, Migrationshintergrund, Kriminalität. Die Lenzsiedlung im Hamburger Bezirk Eimsbüttel ist ein beliebter Drehort für Fernsehfilme über fiktive Verbrechensbekämpfung. »Gefühlt alle zwei Monate«, sagt eine Bewohnerin, werden Park- und Halteverbotsschilder in der Julius-Vosseler-Straße aufgestellt, damit dort die Trucks der Produktionsfirmen parken können. Die Teams der Serien »Großstadtrevier« (ARD) und »Notruf Hafenkante« (ZDF), die den vermeintlichen Alltag der Polizeiarbeit zeigen und diese dabei glorifizieren, fühlen sich wie zu Hause.
Das Filmset muss nicht abgesperrt werden, denn es geht hier ruhig zu. Bewohner*innen der Lenzsiedlung protestieren nicht, wenn ihr Viertel durch Drehbücher in ein schlechtes Licht gerückt wird. Wenn die Requisite den Müll malerisch verteilt, um die Vorurteile der Außenstehenden über die Verhältnisse in einer Hochhaussiedlung zu bestätigen. Wenn ein Dunkelhäutiger sich in einen Hauseingang drückt, weil er dort vorgeblich mit Drogen dealt, um anschließend von der Polizei um die Häuser gejagt zu werden.
»Affenfelsen« wurde die 7,6 Hektar große Lenzsiedlung in den 80er Jahren genannt. Dass damit auf die Nähe zu Hagenbecks Tierpark angespielt wurde, ist eine freundliche Variante der Erklärung. Damals war das Areal ein Problemquartier, wie es im Drehbuch steht: Es war runtergekommen, der Drogenverkauf blühte, und es kam zu Schlägereien von Jugendbanden. Kriminalität wurde zur Ausdrucksform der Perspektivlosigkeit. Vor 40 Jahren galt der »Affenfelsen« schlicht als Ghetto für »Ausländer«. »Früher war es wirklich schlimm hier«, erinnert sich Manuela Pagels an ihre ersten Jahre in der Siedlung. 1996 kam die frühere DDR-Bürgerin hierher.
In Hamburg entstand seit den späten 60er Jahren entlang von U- und S-Bahnstationen massiv neuer Wohnraum. »Dichtemodell« hieß das in der Stadtplanung. Doch Hochhausquartiere wie Mümmelmannsberg, Steilshoop, Osdorfer Born und Neuwiedenthal hatten schnell einen miserablen Ruf. Für die Bewohner*innen wurden die Viertel oft zum Verhängnis, weil ihre Wohnadresse ein Makel bei der Jobsuche war.
Die Lenzsiedlung wurde von 1974 bis 1979 auf dem Gelände einer Kleingartenkolonie hochgezogen: 60 Blöcke mit sieben bis 15 Stockwerken, rund 1200 Wohnungen für 3000 Menschen. Zunächst waren die Neubauten auch für die Mittelschicht attraktiv. Die sanitären Anlagen waren auf dem neuesten technischen Stand, es gab Fahrstühle und Müllschlucker. Zu einer Zeit, als die Waschmaschine noch nicht zur Grundausstattung einer Wohnung gehörte, war die gemeinschaftlich genutzte Waschküche im Keller ein Fortschritt.
Der Abstieg begann aber mit der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt in dem Quartier. Zugewanderte, die damals noch »Gastarbeiter« genannt wurden, und Geflüchtete zogen ein. Für sie blieb Deutsch oftmals eine Fremdsprache, ihre Integration in die Gesellschaft stand eigentlich nicht zur Diskussion. Es bildeten sich »Communitys«, die sich voneinander und gegen die Außenwelt abschotteten.
Nur wenige der Bewohner*innen schrieben Erfolgsgeschichten wie der elfmalige deutsche Fußballnationalspieler Patrick Owomoyela. »Wir haben auf Schulranzen oder Dosen gekickt. Ich glaube, der Fußball hat mich und andere davon abgehalten, viel Blödsinn zu machen«, erinnerte sich der in der Lenzsiedlung aufgewachsene Sohn eines Nigerianers nach seinem Karriereende.
Das Versagen der Stadtplanung, die einseitig auf die Schaffung von Wohnraum blickte und isolierte Trabantenstädte schuf, kann durch engagierte Sozialarbeit korrigiert werden. In der Lenzsiedlung gelang das nicht zuletzt deshalb, weil sie mit 3000 Bewohner*innen vergleichsweise klein ist. 10 000 sind es am Osdorfer Born und 18 000 am Mümmelmannsberg. In Steilshoop, wo 22 000 Menschen wohnen, scheint die Politik indes die früheren Fehler wiederholen zu wollen und plant dort neue Wohnblocks mit bis zu sieben Stockwerken für weitere 2000 Menschen.
Zwar wurde in der Lenzsiedlung nichts aus dem geplanten Einkaufszentrum und dem Wochenmarkt, der auch Menschen von außerhalb hätte anziehen können. Die fehlende Infrastruktur in dem Quartier fällt jedoch weniger ins Gewicht, weil die Siedlung mitten in einem gewachsenen Stadtteil liegt. Einkaufsmöglichkeiten sind dort zu Fuß erreichbar.
Zudem haben die seit den 90er Jahren aufgelegten sozialen Förderprogramme Wirkung gezeigt. Es gibt mittlerweile ein Bürgerhaus, ein Jugendhaus, Treffpunkte für Mieter und spezielle Angebote für Senioren. Das Bezirksamt kommt für zehn Vollzeitstellen auf. Zuletzt konnte im Oktober 2021 eine Skaterbahn eröffnet werden. Im Zentrum der Aktivitäten steht der bereits 1977 gegründete Verein Lenzsiedlung. »Der einst so schlechte Ruf ist von außen entstanden«, ist sich dessen Geschäftsführer Ralf Helling sicher. »Wohl auch zur Erhöhung des Rests von Eimsbüttel.«
Außer im Fernsehen wird die Lenzsiedlung schon lange nicht mehr mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Dabei ist sie noch immer multikulturell geprägt. 72,4 Prozent der Bewohner*innen haben einen Migrationshintergrund. Etwa die Hälfte von ihnen besitzt inzwischen einen deutschen Pass. 2004 gewann das Quartier den Wettbewerb »Soziale Stadt« des Bundesbauministeriums. Auch der Verein Lenzsiedlung heimste mehrere bundesweit ausgelobte Preise ein.
Die Betreuungsangebote und der Druck von außen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass aus der Lenzsiedlung eine Art vertikales Dorf geworden ist. Man kennt sich nicht nur, sondern »hier wird wie in einem Dorf getratscht«, sagt die 50-jährige Ada*. Die selbstständige Friseurin kam als Kind aus der Türkei nach Deutschland und wohnt seit 20 Jahren hier. »Ich werde hier nicht wegziehen«, erklärt sie. »Vier Kinder habe ich hier großgezogen und dabei gute Erfahrungen gemacht.« Die Abgeschlossenheit des Viertels bringe eine soziale Kontrolle mit sich: Die Kinder könnten aufeinander aufpassen und andere Eltern die Nachbarskinder im Blick behalten.
Im Vergleich mit anderen Stadtteilen sind die Wohnungen hier erschwinglich. Ada zahlt für vier Zimmer mit knapp 100 Quadratmetern 850 Euro Warmmiete. Und die Verwaltung funktioniert. Ihr Vermieter ist die stadteigene SAGA (Siedlungs-Aktiengesellschaft Altona); mit rund 137 000 Wohnungen ist sie das größte Immobilienunternehmen in Hamburg. Die Lenzsiedlung ist ein Vorzeigeobjekt der SAGA. Als Modell diente sie auch Ethnologen, Psychologen, Soziologen und Sozialpädagogen der Hamburger Universität und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, die dort »postmigrantische Familienstrukturen« erforschten – was nicht ohne Rückwirkungen auf das Selbstverständnis der Untersuchten blieb.
Die Wohnung der 32-jährigen Inna* gehört einer Firma, die 2006 einige Wohnblocks bei einer Zwangsversteigerung erwarb. Die leitende Angestellte mit polnischen Wurzeln schwärmt geradezu von der Verwaltung. Sie kam vor elf Jahren aus einem Hamburger Vorort in eine Wohngemeinschaft im achten Stockwerk. Ihre Vorbehalte gegen den Hochhauskomplex verflogen rasch. Als sich ihre WG auflöste und ihr Obdachlosigkeit drohte, zeigte sich die Verwaltung sehr bemüht und beschaffte ihr eine Wohnung im selben Haus, eine Etage höher. Als Beispiel für die Fürsorglichkeit der Vermieter verweist sie auf den Luftfilter, mit dem der Aufzug während der Corona-Pandemie nachgerüstet wurde.
Tatsächlich ist der Fahrstuhl blitzblank und ohne Graffiti. Sprayer scheinen die Lenzsiedlung zu meiden. »Das war keiner von hier«, meint Inna zu dem Slogan »Nazis boxen« neben einer Haustür. Sie könnte sich schon eine höhere Miete als die 780 Euro warm für 60 Quadratmeter leisten, fühlt sich aber hier wohl. Für fast ein Drittel der Bewohner*innen, die Hartz-IV, und ein weiteres knappes Drittel, die Grundsicherung beziehen, ist ein Umzug weitaus schwieriger.
Als zum Jahresbeginn 2016 die Sozialbindung für die Mehrzahl der Wohnungen endete, entstand eine Initiative gegen befürchtete Mieterhöhungen. Manuela Pagels, die für Die Linke in der Bezirksversammlung sitzt und im Bürgerhaus für die Technik zuständig ist, hat sie mitgegründet. In der Lenzsiedlung sei es wie auf dem Dorf, erzählt die 61-Jährige. »Wenn es nach mir geht, wird dies meine letzte Wohnung gewesen sein.« Und dann erregt sie sich über die AfD, die vor einem Jahr der Lenzsiedlung mediales Aufsehen verschaffte und vor allem die Sozialarbeit ins Visier nahm, die die Zustände nachweislich verbessert hat.
Auf Facebook hetzte die Partei gegen die »die kulturelle Zusammensetzung der Bewohner, wilde Müllablagerungen sowie eine Rattenplage«. Deutsche seien dort »mittlerweile eine Randerscheinung«. Mit einer Anfrage in der Bezirksversammlung setzte die AfD-Fraktion ihren Angriff fort: Die Rechtspopulisten wollten wissen, wie hoch der »Anteil der ausländischen Bewohner« und derer »mit Migrationshintergrund« sei, »wie viele Flüchtlinge« hier wohnen und wie viele Wohnungen »vom Jobcenter bezahlt« würden. »Der Öffentlichkeit ist immer wieder ein Vermüllungsproblem bekannt. Mittlerweile wurde eine Videoüberwachung installiert. Wie hat sich das Problem entwickelt und wie wird die wilde Müllablagerung geahndet?« Und schließlich: »Wie ist die Situation hinsichtlich möglichen Rattenbefalls?«
Schon die Fragestellung sei diskriminierend, fand Manuela Pagels und fragte in der Bezirksversammlung, ob das Recht auf die Beantwortung solcher Anfragen verwehrt werden dürfe, wenn deren Inhalt rassistisch sei und nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Antwort zu weiteren Diskriminierungen genutzt werde.
Die AfD bekam ihre Antworten. Aber zur Anzahl der Geflüchteten und den vom Jobcenter bezahlten Wohnungen, zu Müll und Ratten hieß es nur: »Hierzu liegen dem Bezirksamt keine Informationen vor.« Und statt die Bewohner*innen in »Ausländer« und »Volksdeutsche« zu spalten, lieferte die AfD den Anlass für eine stadtweite Solidaritätserklärung gegen das »nicht erst seit der Zeit des Nationalsozialismus vertraute Narrativ, um ganze Gruppen zu entmenschlichen«, wie Ralf Helling vom Verein Lenzsiedlung es nennt. »Gemeinsam gegen Rassismus« ist seitdem auf Transparenten um das Bürgerhaus zu lesen, und der Slogan scheint in der Lenzsiedlung nicht nur eine wohlfeile Parole zu sein.
* Name geändert
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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