Weltoffenes Kaff

Bad Oldesloe in Holstein ist dabei, durch Zuwanderung seinen Ruf als spießige Kleinstadt zu verlieren

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 9 Min.

Bad Oldesloe liegt im östlichen Hügelland Schleswig-Holsteins verkehrstechnisch günstig. Reisende auf dem Weg zur Ostsee nehmen vielleicht die Abfahrt Bad Oldesloe wahr, an der sie auf der Autobahn 1 ungefähr 40 Kilometer nördlich von Hamburg und etwa 20 Kilometer südlich von Lübeck vorbeifahren.

Diese geografische Lage hat einen positiven Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung der Kreisstadt, denn ein nicht unerheblicher Teil der Bewohner von Oldesloe, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen – wobei das letzte «E» nicht gesprochen wird, dafür das letzte «O» etwas gedehnt, also eigentlich wie «Oh» –, pendelt entweder zur Arbeit nach Hamburg oder zahlenmäßig etwas weniger nach Lübeck.

Außerdem wächst die Kleinstadt moderat. Derzeit zählt sie 25 000 Einwohner. Familien aus den nahen Ballungsgebieten sind dort auf der Suche nach billigeren Mieten oder günstigem Bauland. Das macht den Standort attraktiv für Investoren und gleicht die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen wieder aus, die die Enge der Kleinstadt mit der weiten Welt tauschen.

Wie Ronya Galka zum Beispiel, die heute in der britischen Grafschaft Northumberland lebt, nicht weit von der Hafenstadt Newcastle entfernt, und sich als Straßen-Fotografin im Vereinigten Königreich einen Namen gemacht hat. 1993, direkt nach dem Abitur in Bad Oldesloe, ging sie als Au-pair nach London, anschließend für ein weiteres Jahr nach Paris. Aus der ursprünglichen Planung, danach wieder nach Deutschland zurückzukehren, wurde nichts. Stattdessen begann Galka ein Studium in London und baute ihr Leben in Großbritannien auf.

Die 47-Jährige, die sich zu einem Besuch in der Kreisstadt aufhält, kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn sie die demografischen Veränderungen in ihrer Heimat reflektiert. «Es ist schon erstaunlich: Das Bad Oldesloe, das ich Anfang der 90er Jahre verließ, war eine etwas biedere Beamtenstadt, in der es nur sehr wenige Menschen mit Migrationshintergrund gab. Als ich mit meinem damaligen Lebensgefährten, der aus Nigeria stammt, hier durch die Fußgängerzone lief, gab es schon einige giftige Blicke und Getuschel. Aber das hat sich geändert, heute leben hier Menschen aus aller Welt.»

In der Tat, wer Bad Oldesloe noch aus früheren Zeiten kennt, sieht die Veränderungen. Die Kreisstadt ist heute ein Klein-Babylon und erinnert ein wenig an urbane Einwanderungszentren wie Hamburg-Altona, Berlin-Neukölln oder Köln-Chorweiler. Diverse Migrationshintergründe sind keine Seltenheit, und immer mehr Kinder stammen aus binationalen Beziehungen. In der Innenstadt, früher von Geschäften geprägt, die seit Jahrzehnten im Familienbesitz waren und die so etwas wie die lokale Elite bildeten, gibt es heute mehrere orientalische Lebensmittelläden. Cafés und Bäckereien werden von Einwandererfamilien geführt.

Die italienische Eisdiele, wo die Jeunesse dorée der Kreisstadt ein und aus ging, ist noch am Platz, wobei ein Großteil der Bedienung aus Südosteuropa stammt. Die Kneipe «Zur Mühle» gleich nebenan, in der sich früher die Fußballer nach dem Training trafen, hat sich in eine hippe, urban anmutende Bar verwandelt, die von Deutsch-Iranern betrieben wird, die sich aber als Italiener ausgeben. Bei einem Bummel durch die Innenstadt vernimmt man Sprachen wie Dari, Arabisch und Armenisch neben kurdischen Mundarten.

Hanni Demetroius hingegen, Jahrgang 1969, der in Bad Oldesloe als Sohn ägyptischer Einwanderer aufwuchs und seit 2003 in New York lebt, äußert per Skype, dass ihm das Bad Oldesloe von früher besser gefallen habe: «Da war viel mehr Leben, und ich glaube, man hat sich früher weniger als ›Kanake‹ gefühlt als jetzt.» Diese Äußerungen mögen einen ein wenig erstaunen lassen.

Auch ich bin in der Stadt aufgewachsen, und ich erinnere mich, wie ich im Alter von zwölf Jahren mit einem Freund in der Fußgängerzone unterwegs war und dort den allseits beliebten und respektierten Fußball-Nachwuchstrainer traf. Wir begannen zu plaudern, während ein Pärchen vorbeiging, er schwarz, sie weiß. Sicherlich ein eher seltener Anblick im Bad Oldesloe des Jahres 1983, worauf der nette Fußballtrainer, ein jovialer, freundlicher Herr um die 60, plötzlich in einem Tonfall äußerte, als würde er noch über Fußball oder über das Wetter reden: «Solche Leute sollte man mit Benzin übergießen und anzünden!»

Aber das Bad Oldesloe von damals ist Geschichte. Der Fußball-Trainer ist schon lange tot. Würde er heute noch leben und durch die Fußgängerzone schlendern, möglicherweise würde er entsetzt sein. Hanni berichtet dennoch von seltsamen Blicken, die er in den vergangenen Jahren während seiner Besuche in Bad Oldesloe wahrgenommen hat, räumt aber ein: «Ich bin eventuell auch verwöhnt – hier in New York hat man nie das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein.»

Der demografische und soziale Wandel hat sich in der Kreisstadt sanft, aber nachhaltig vollzogen. Bad Oldesloe erinnert an eine kleine «Arrival-City», wie der kanadische Journalist Doug Saunders die großen Einwanderer-Metropolen in seinem gleichnamigen Buch zu bezeichnen pflegte. Der Bürgerpark von Bad Oldesloe, in dem früher ab dem späten Nachmittag die Bürgersteige hochgeklappt wurden, wird heute an warmen Sommerabenden von Jugendlichen bevölkert, die lässig an Laternenpfählen lehnen, die mit Antifa-Stickern zugeklebt sind, flankiert von Marihuana-Duft und Rap-Musik. Man kann das begrüßen oder ablehnen.

Das Bad Oldesloe der früheren Jahrzehnte, die biedere Kreisstadt mit ländlichem Einzugsgebiet, scheint nicht mehr existent zu sein. Die Stadt damals war größtenteils ethnisch homogen. Die massiven Zuzüge der Nachkriegszeit, hervorgerufen durch Flüchtlingsbewegungen aus Ostpreußen oder Pommern, waren höchstens noch an den Straßennamen zu erkennen, die an Königsberg oder Kolberg erinnerten. Und die alten Leute erzählten noch Geschichten aus der «Wolfszeit», wie der Autor Harald Jähner diese Epoche zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der beiden deutschen Staaten nannte. Binnen weniger Jahre hatte sich die Bevölkerungszahl Schleswig-Holsteins durch die Aufnahme der Flüchtlinge verdoppelt, und die Integration der Neunankömmlinge verlief alles andere als reibungslos.

Was Geflüchtete aus dem Osten durchmachen mussten, erlebten die Eltern von Ronya Galka, die als Kleinkinder aus Ostpreußen kamen und in ihrer Kindheit Ablehnung und Hass zu spüren bekamen. Die NS-Propaganda, mit der die Deutschen zwölf Jahre lang indoktriniert worden waren, hatte offenbar nur wenige Spuren hinterlassen. Den Mythos der «Volksgemeinschaft» gab es offenbar nicht mehr. Die Ablehnung der Landsleute aus dem Osten war natürlich auch in der Not der Nachkriegszeit begründet, als die Ressourcen knapp waren und es Hunger gab. Aber nicht nur. Fremdenfeindlichkeit richtet sich nicht nur gegen andere Ethnien, Sprache oder Religionen.

Anfang der 90er Jahre zogen viele Aussiedler und Russlanddeutsche nach Bad Oldesloe. Wenig später folgten Albaner, dann Afghanen und Syrer. Letztlich leben heute Menschen aus allen Winkeln der Erde in der Kleinstadt.

An der Bad Oldesloer Theodor-Storm-Schule findet ein Frühlingsfest statt, das wegen der Corona-Pandemie in den letzten zwei Jahren verschoben werden musste. Schulleiter Martin Nirsberger ist sichtlich erfreut, denn heute wird seine Bildungsstätte mit dem Titel «Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage» ausgezeichnet. Der 38-Jährige stammt aus Thüringen und ist seit 2020 Direktor der Schule. «Ich habe mich als ostdeutscher Katholik gut in die protestantisch geprägte norddeutsche Kleinstadt integriert», erwähnt er lachend.

«Das heutige Bad Oldesloe ist viel weltoffener als früher», ergänzt Jörg Lemke. Der parteilose Bürgermeister ist anlässlich des Schulfestes und der Verleihung der Auszeichnung in der Schule eingetroffen. Lembke, ein jovialer Mann von Mitte 50, sieht in der Zuwanderung keine Probleme.

Nirsberger bittet auf den Schulhof, wo seine Schüler ihn freudig begrüßen. Schulsprecher Salman Merza, Sohn jesidischer Einwanderer aus dem Nord-Irak, schüttelt auf die Frage, ob er schon mal Rassismus erlebt habe, erstaunt den Kopf. Von den über 400 Schülern haben rund 70 Prozent einen Migrationshintergrund, erwähnt der Leiter der Gemeinschaftsschule und verweist auf die zahlreichen Aktivitäten an seiner Einrichtung wie die Aufnahme eines Anti-Mobbing-Songs, den interkonfessionellen Religionsunterricht, die «Meet a Jew»-Aktion sowie den Tag der Justiz.

Auch ich ging in den 80er Jahren auf diese Schule und kann mich noch daran erinnern, dass bereits ein gelber Jogginganzug, den ich im Sportunterricht trug, anstößig erschien, weil die Farben Blau und Weiß erwünscht waren. Die Zeiten waren damals andere.

Aber vollzieht sich dieser Wandel wirklich ohne größere Probleme in Bad Oldesloe? Ein Mitarbeiter der örtlichen Kreissparkasse, der ungenannt bleiben möchte, beschwert sich über die wachsende Anonymität und die angeblich gesunkene Kaufkraft. «Früher kannte jeder jeden, aber heute? Außerdem werden durch die Zuwanderung Traditionen über Bord geworfen», meint er.

Ich erinnere mich noch, wie in den 80er Jahren NPD-Leute Flyer auf dem örtlichen Wochenmarkt verteilten, und auch daran, dass plötzlich Aufkleber der rechtsextremen Partei an der Schule auftauchten. Die NPD versuchte offenbar, an alte Zeiten anzuknüpfen. «Noch im April 1945 haben die Leute in Bad Oldesloe mit ›Heil Hitler‹ gegrüßt», berichtet eine alte Dame, die damals als Flüchtling aus Ostpreußen in die Stadt kam. Wie viele Städte im ländlichen Schleswig-Holstein war auch Bad Oldesloe eine frühe NS-Hochburg und blieb es bis zum Schluss.

In den vergangenen Jahren allerdings wurde die Zuwanderung in die Kreisstadt nicht vom Aufstieg rechter Parteien begleitet. Selbst die AfD, die nach der jüngsten Landtagswahl ohnehin aus dem Parlament in Kiel flog, konnte in Bad Oldesloe nie richtig Fuß fassen.

Liegt es an den günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen, an dem Engagement der Bürger oder an der Nähe zu den weltoffenen Hansestädten, dass die Integration von Zuwanderern relativ gut funktioniert? Azad ist ein kurdischstämmiger Frisör, der vor vier Jahren aus Hamburg kam. Er findet Bad Oldesloe zwar etwas spießig, weiß es aber zu schätzen, dass seine Kinder an den örtlichen Schulen besser integriert sind als im «weltoffenen» Hamburg.

«Als ich aus Mecklenburg nach Oldesloe kam», erzählt Malte, ein Kunde in seinem Salon, «war ich anfangs schon irritiert wegen der vielen Ausländer. Ich dachte, so etwas gibt es nur in Großstädten. Bei uns in Parchim kannte man das so nicht, obwohl die Stadt ähnlich groß ist. Dort haben die Leute viel mehr Vorurteile als hier, weil sie halt keine Ausländer kennen. Mir ging es ja ähnlich, ich war früher ziemlich rechts. Als ich dann nach Oldesloe zog, ließ das nach. Ich habe immer noch Kontakt mit den Kameraden von damals, über Politik reden wir dabei aber nicht. Wäre ja auch komisch.» Seit vier Jahren ist er mit einer in Bad Oldesloe aufgewachsenen Ghanaerin liiert, das Paar hat zwei Kinder.

Kurz vor ihrer Abreise nach England genießt Ronya Galka noch einmal einen Latte macchiato in der Eisdiele. «Nie werde ich vergessen, welches Gefühl der Freiheit ich empfunden habe, als ich nach London gezogen bin», erzählt sie. Ich wollte hinaus in die Welt, raus aus dem Kaff. Und jetzt ist die Welt hier nach Bad Oldesloe gezogen, während ich in Nordengland auf dem Lande lebe.« Sie zückt ihre Kamera, um wieder eines ihrer Straßenbilder zu schießen, wofür sie früher nur in London oder Paris Motive fand.

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