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Kontroversen um patriarchale Strukturen
Kubas Bevölkerung diskutiert über den Entwurf eines neuen Familiengesetzes
Ein paar Kinder toben in der Abenddämmerung über die Plaza del Cristo in Havannas Altstadt, aus einem Fahrradtaxi schallt Musik über den Platz, auf den Bänken unterhalten sich Menschen, andere laufen vorbei oder halten an, um bei einem Straßenhändler einzukaufen. In einer Sekundarschule am Rande des Platzes bereitet sich derweil eine Gruppe von Anwohnern darauf vor, den Entwurf des neuen Familiengesetzes zu diskutieren. Kubanische Flaggen, eine Büste von José Martí und Fotos des verstorbenen Staatschefs Fidel Castro begrüßen die rund 40 Teilnehmenden, in der Mehrzahl ältere Semester.
Nach einer kurzen Begrüßung durch eine Vertreterin des Viertels ergreifen zwei eingeladene Fachleute das Wort. Sie erläutern die wichtigsten Punkte des Gesetzentwurfes. Mit dem neuen »Código de las familias« soll das bisherige Familiengesetzbuch von 1975 durch eine zeitgemäße und inklusive Fassung abgelöst werden, in der verschiedene Lebensentwürfe Anerkennung finden. Das neue Gesetz legalisiert gleichgeschlechtliche Ehen, stärkt die Rechte von Frauen und älteren Menschen und etabliert Schutzmechanismen gegen häusliche Gewalt. Außerdem werden Neuerungen wie Eheverträge und Schwangerschaftsunterstützung eingeführt.
In der Versammlung entspannt sich eine lebhafte Debatte. Die meisten Anwesenden befürworten den Entwurf. Ein Mann äußert sich ausführlich zu älteren und anderen schutzbedürftigen Personen, die seiner Meinung nach durch das neue Gesetzbuch besser geschützt sind. Es gibt einen Vorschlag zur Änderung des Titels eines Kapitels; einen Zweifel beim Mindestalter für die Eheschließung klären die Experten. Nach anderthalb Stunden ist das Treffen beendet.
José Lorenzo Villoch, einer der Teilnehmenden, zeigt sich danach zufrieden. »Die Anhörung ist wichtig«, sagt er, »denn sie berücksichtigt die Kriterien der Bevölkerung, nicht nur die der Experten, die das Gesetz ausgearbeitet haben.« Als Rentner habe er Zeit und den Gesetzestext genau studiert, erklärt Villoch. Das Gesetz trage der »großen Hetereogenität der Familienformen in Kuba« Rechnung. »Es nimmt niemandem Rechte weg, sondern räumt Rechte ein, die bisher nicht anerkannt waren.«
Von Anfang Februar bis Ende April wurde auf der Insel in knapp 79 000 Nachbarschaftsversammlungen der Entwurf des neuen Familiengesetzes diskutiert. Die dabei zusammengekommenen Vorschläge werden nun in den Gesetzestext eingearbeitet, der dem Parlament Mitte Juni zur Annahme vorgelegt wird. Über die endgültige Fassung soll dann – voraussichtlich im Herbst – in einem Referendum abgestimmt werden.
Nicht alle Versammlungen zum Familiengesetz verliefen so harmonisch wie die an der Plaza del Cristo. Bei einigen kam es zu hitzigen Debatten über verschiedene Aspekte, wie die Einführung der »Ehe für alle« oder die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare. Ursprünglich war die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe als Teil der neuen Verfassung von 2019 vorgesehen. Aufgrund fehlenden gesellschaftlichen Konsenses und Widerstands der Kirchen wurde damals entschieden, das Thema auszugliedern und über die Neufassung des Familiengesetzbuches zu regeln.
Ende Februar veröffentlichte die Katholische Bischofskonferenz Kubas eine Erklärung, in der sie sich gegen die liberaleren Elemente des Gesetzes ausspricht. »Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Mehrheit der Kubaner die Definition der Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau, wie sie im geltenden Familiengesetzbuch von 1975 enthalten ist, beibehalten wollte«, heißt es da. Der Gesetzentwurf sei von der sogenannten Gender-Ideologie durchdrungen.
Eine Kontroverse ist auch entstanden um die Reform des Sorgerechts und die Rechte von Kindern in der Familie. Der aus dem römischen Recht stammende Sorgerechtsbegriff »patria potestad«, mit dem traditionell der Vater als Familienoberhaupt verknüpft ist, soll durch den neutralen Ausdruck »elterliche Verantwortung« ersetzt werden. Die Kirchen nehmen diese Änderung jedoch als Bedrohung eines traditionellen Familienbegriffs wahr. Außerdem warnen sie vor der Aufnahme von Sexual- und Geschlechtserziehung in die Lehrpläne und »Untergrabung der elterlichen Autorität«. Von kirchlicher Seite ist der Vorschlag zu hören, die Gesetzeskapitel separat zur Abstimmung zu stellen und nicht den Gesetzentwurf als Ganzes. Besonders strittige Punkte würden dann keine Mehrheit finden, so wohl die Hoffnung.
LGBTIQ+-Aktivisten dagegen kritisieren die Tatsache, dass über Rechte in einer Volksabstimmung entschieden wird, während beispielsweise das neue Strafgesetzbuch und andere Gesetze ohne vorherige breite Debatte vom Parlament verabschiedet wurden. »Der Konflikt besteht darin, dass die Verabschiedung von Rechten für die LGBTIQ+-Gemeinschaft mit der Verabschiedung des Familiengesetzes verknüpft ist«, sagt die Aktivistin Laritza Pérez aus Santa Clara. »Wie kann es sein, dass etwas, das in der Verfassung verankert ist, zum Beispiel, dass alle Kubaner die gleichen Rechte und Pflichten haben, von der Verabschiedung eines Familiengesetzes abhängt?«
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