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Keine Zeit für Experimente beim DFB
Für Deutschlands Fußballer beginnt schon jetzt der Countdown zur WM im Dezember
Er ist gar nicht zu übersehen, der Ständer mit dem Werbeplakat, der wenige Meter rechts vom Pressepodium in Herzogenaurach steht. »Your journey starts now«, steht drauf, die Reise der deutschen Fußball-Nationalspieler zur Weltmeisterschaft in Katar beginnt also jetzt. Mo Salah und Lionel Messi sind darunter abgebildet, wobei der eine Weltstar mit Ägypten in der Qualifikation zur WM-Endrunde hängen geblieben ist, der andere trotz seines mittlerweile fortgeschrittenen Alters mit Argentinien aber immer für ein starkes Turnier gut ist. Ein deutscher Akteur fehlt auf dem Bild, was nicht völlig auf die falsche Fährte führt. Schließlich blieben die Kicker des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sowohl bei der WM 2018 (Vorrundenaus) als auch bei der EM 2021 (Achtelfinale) weiter hinter ihren eigenen Ansprüchen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Trotzdem hat Hansi Flick sein erstes Turnier in der Chefrolle mit dem Auftrag versehen, wie zuletzt 2014 Weltmeister zu werden. Ob seine Mannschaft dafür taugt, werden vier anspruchsvolle Länderspiele binnen elf Tagen zeigen. Die erste Reise startete am Freitag in Herzogenaurach. Vom Trainingslager ging es nach Bologna, wo im Stadio Renato Dall’Ara zum Auftakt der Nations League beim Europameister Italien an diesem Samstag (20.45 Uhr/RTL) die wichtigste Standortbestimmung der Amtszeit Flicks ansteht. Acht Siege zum Start waren gut und schön, aber mehr Aufschlüsse vermittelte das Remis gegen die Niederlande (1:1) – nun folgt das zweite hochkarätige Kaliber.
»Wir wollen mit der bestmöglichen Mannschaft gegen Italien gewinnen«, forderte der Bundestrainer. Es sei doch jedem klar, »wo wir hinwollen: unter die Besten in Europa, in der Welt.« Gerade die gefährliche deutsche Offensive mit vielen flexiblen Spielertypen biete ein Gesamtpaket, »damit brauchen wir uns nicht zu verstecken«, so Flick. Der 57-Jährige redet von den Stärken seiner Spieler inzwischen mit einer Selbstverständlichkeit, die nur entstehen kann, wenn ein Trainer im täglichen Tun mit seinen Akteuren davon auch überzeugt ist.
Die meisten Akteure hatten zwar drei Wochen Spielpause, aber aus Sicht des Bundestrainers war es ideal für die Vorbereitung, dass keiner seiner Spitzenspieler in dieser Zeit im DFB-Pokalfinale, geschweige denn im Endspiel der Champions League stand. Nach je fünf Tagen Regenerationstrainingslager in Marbella und Training in Herzogenaurach haben sich die meisten nicht nur eine gesunde Gesichtsfarbe zugelegt, sie sind, abgesehen vom erkrankten Marco Reus, auch bei besten Kräften, um im anfangs noch argwöhnisch beäugten Wettbewerbsformat namens Nations League zu reüssieren.
»Besser als Freundschaftsspiele«, erklärte Führungskraft Joshua Kimmich, seien diese Partien auf jeden Fall, »und dass es so viele Spiele sind, finde ich ganz cool«. Viel Zeit zum Luftholen ist nach dem Kurztrip über die Alpen ja nicht, denn bereits am Dienstag kommen Englands Vize-Europameister zum Prestigeduell nach München, danach geht es in Budapest gegen Ungarn (11. Juni) weiter und von dort direkt nach Mönchengladbach zum Heimspiel gegen Italien (14. Juni). »Danach können wir ein Resümee ziehen«, sagte Flick, der all seine Erkenntnisse mit Blick auf die WM bündeln will. »Ich werde genau darauf achten, was die nächsten Monate passiert.«
Der gebürtige Heidelberger muss in diesen Tagen schließlich die Basis für einen WM-Erfolg legen, denn in der kommenden Saison bleibt ob des zusammengepferchten Spielplans keine Zeit für eine richtige WM-Vorbereitung: Förmlich direkt aus der Liga heraus wird der DFB-Tross Mitte November sein WM-Quartier in Al-Ruwais am Persischen Golf beziehen. Heißt: Was die DFB-Auswahl in der Gruppe gegen Japan, Spanien und Costa Rica oder Neuseeland abrufen soll, muss also schon früher auf die Festplatte programmiert werden. Dazu gehört eine klare Aufgabenteilung im bevorzugten 4-2-3-1-System, an dem Flick und seine Helfer – anders als Vorgänger Joachim Löw – nicht mehr herumexperimentieren werden.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei Mittelfeldorganisator Joshua Kimmich, der mit seinem Partner Leon Goretzka gar nicht mehr so unentbehrlich ist, wie viele dachten. Erst seine Impfverweigerung, dann eine Covid-Erkrankung samt Nachwirkungen und im März noch die Geburt seines dritten Kindes haben dazu geführt, dass der 27-Jährige bei der Nationalmannschaft fast acht Monate raus war. Die Konkurrenz steht parat: Ilkay Gündogan, Matchwinner beim englischen Meister Manchester City, und vor allem Jamal Musiala, Shootingstar beim deutschen Meister FC Bayern, sind mehr als nur Alternativen. »Ich weiß, dass das sicherlich nicht meine beste Saison war, speziell in der Rückrunde«, sagte Kimmich zuletzt im selbstkritischen Duktus, stellte aber am Freitag heraus, nicht das Gefühl zu haben, dass an ihm gezweifelt werde.
Das Vertrauen des Trainerteams will der 64-fache Nationalspieler jetzt wieder mit Leistung zurückzahlen. Er weiß, dass sein Verein »deutlich zu viele Gegentore« bekommen hat – und da spricht sich ein Chef im defensiven Mittelfeld nicht von Verantwortung frei. Zudem wurmt ihn immens, dass die »Generation 95«, zu der auch sein bester Kumpel Serge Gnabry gehört, mit der A-Nationalmannschaft noch nichts gewonnen hat: »Wir wollen zeigen, was wir können – es ist auch an der Zeit, dass wir das tun.« Speziell Hansi Flick schätzt Kimmichs Ehrgeiz. Denn der »Josh«, wie ihn alle beim DFB-Team nennen, verkörpere wie kein anderer die vom Bundestrainer täglich eingeforderte »All-in«-Mentalität.
Über diese Anforderung staunte dieser Tage sogar Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff: »Hansi hat einen absoluten Leistungsanspruch. Er fordert ein, dass die Dinge auf dem Platz und in den Besprechungen umgesetzt werden.« Wer da nicht mitziehen kann, hat es schwer. Emre Can, Mats Hummels, Julian Draxler, Robin Gosens oder auch Matthias Ginter können das bestätigen: Sie alle haben es nicht mal mehr in den Nations-League-Kader geschafft. Alles deutet darauf hin, dass sie auch nicht zur Katar-Reisegruppe gehören werden.
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