- Politik
- Krieg in der Ukraine
Mit Gott an der Front
Der orthodoxe Priester Dionissij Wassyljew unterstützt im Donbass die ukrainischen Soldaten
Als wir ihn im vergangenen Oktober besuchen, kann Dionissij Wassyljew nicht ahnen, dass der Krieg nur wenige Monate später so eskalieren würde. Doch schon damals, in einem modrigen Keller weit im Osten der Ukraine, bricht dem stattlichen Mann im Priestergewand die Stimme. »Entschuldigung, da werden Erinnerungen wach«, sagt er den Tränen nahe. Und nimmt die Hand des Reporters und legt sie auf sein Herz. Es rast.
Hier, tief unter der Polizeistation der Kreisstadt Druschkiwka, durchlebte Wassyljew (34) vor acht Jahren die drei schlimmsten Tage seines Lebens. Hier, so erzählt er, wurde er in den ersten Kriegswochen 2014 von russischen Separatisten eingesperrt und gefoltert. Hier habe er durch ein Fenster gesehen, wie seine Mithäftlinge im Hof erschossen wurden. Weil sie sich für eine unabhängige Ukraine eingesetzt haben. So wie Wassyljew in seiner Kirche.
Denn was viele in diesen Tagen vergessen: Die Ukraine ist nicht erst seit Februar, sondern seit mehr als acht Jahren im Krieg. Parallel zur Annexion der Krim im März 2014 begannen Gefechte im Osten des Landes. Aus dem Nichts tauchten »grüne Männer« auf, von Russland bezahlte Söldner, die für eine Abspaltung von der Ukraine kämpften. Sie stürmten Regierungsgebäude und nahmen binnen weniger Tage ein Drittel des Donbass ein. Wenig später riefen sie die selbst ernannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk aus. Sie werden international nicht anerkannt, sind völkerrechtlich weiterhin Teil der Ukraine. Seit 2014 regieren dort aber die Marionetten Moskaus.
Seitdem wird gekämpft, vor allem in den ersten Kriegsmonaten intensiv. Die mühselig verhandelten Waffenstillstandsverträge Minsk I und II hielten nie auf Dauer. Bis Anfang 2022 starben mehr als 14 000 Menschen auf beiden Seiten, Zehntausende wurden verletzt, Hunderttausende von ihren Familienmitgliedern und Freunden auf der anderen Seite der »Kontaktlinie« getrennt. Ab 2018 war es vergleichsweise ruhig, die »Grenze« gefestigt, nur noch selten brachen größere Kampfhandlungen aus.
Doch dann kam es zur massiven Eskalation des Krieges. In den Morgenstunden des 24. Februar beschossen russische Truppen Kiew und etliche weitere Städte mit Raketen. Am selben Tag begann auch die russische Bodenoffensive auf Kiew aus mehreren Seiten. Als diese noch vor den Stadtgrenzen scheiterte, verlagerten sich die Kampfhandlungen mehr und mehr in den Donbass, wo sie seit einigen Wochen besonders erbittert toben. Täglich sterben dort rund 100 ukrainische Soldaten, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich sonst überaus bedeckt zu den eigenen Verlusten hält.
»Ich hatte nicht kommen sehen, dass der Krieg derart eskaliert«, sagt der orthodoxe Priester Wassyljew heute. Aber als Mitte Februar die russische Duma und dann auch Präsident Wladimir Putin die beiden »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk anerkannte, war ihm aber klar: Jetzt geht es los.
Doch noch immer wirken auch die allerersten Kriegstage im Frühjahr 2014 bei Wassyljew nach. In Slowjansk erzählt er im vergangenen Oktober seine Geschichte. Ursprünglich zum Konditor ausgebildet, besuchte er die theologische Universität Kiew und kam 2013 als orthodoxer Priester in seine Heimatstadt Druschkiwka zurück. Als wenig später die Revolution am Maidan ausbrach, fuhren viele Mitglieder seiner Gemeinde in die Hauptstadt. Sie halfen in der dortigen Michael-Kathedrale, die zum provisorischen Lazarett wurde. Hier fanden die Demonstrierenden Schutz vor den brutalen Angriffen von Polizei und Militär, die der prorussische Staatspräsident Viktor Janukowitsch mit scharfer Munition auf die Demonstranten schießen ließ.
Wassyljew blieb in der Kleinstadt Druschkiwka, machte weiter mit seinen Gottesdiensten, auch als die Region um die provisorische, ukrainisch kontrollierte Regionalhauptstadt Kramatorsk zeitweise von Separatisten eingenommen war. Immer wieder habe er die Einheit der Ukraine in seinen Messen thematisiert, erzählt er. Das Narrativ von einer gespaltenen Ukraine, von einem »Bürgerkrieg« sei von Anfang an falsch gewesen, meint er. Erst nach Ostern, dem höchsten Fest der orthodoxen Kirche, wurde ihm empfohlen, mit den Gottesdiensten besser aufzuhören. Weil es zu gefährlich würde. »Wir haben aber weitergemacht, dann eben hinter verschlossenen Türen«, sagt Wassyljew. Eine Weile ging das gut.
Aber am 13. Juni 2014 kamen drei Männer mit Waffen und schwarzen Masken in sein Haus und forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Als er noch die Tür abschließen wollte, sagten sie zu ihm: »Nicht nötig«, er werde das Haus nicht mehr brauchen. Wassyljew tat, wie ihm geheißen, stieg ins Auto und landete in einem provisorischen Verhörraum unter der Polizeistation Slowjansk. Hierher wurden die Gefangenen geführt und der Reihe nach ausgefragt, wie er Jahre später erzählt.
Denn dass der Priester just im Revolutionsjahr von Kiew in den Osten ging, machte ihn verdächtig. Die prorussischen Besatzer wollten wissen, wer seine Hinterleute seien und wer ihn bezahle. Als er keine Antworten für sie hatte, prügelten sie auf ihn ein. Gezielt auf die Nieren, auf den Rücken. Durch ein kleines Fenster habe er gesehen, wie andere Häftlinge im Hof erschossen wurden. Mindestens 30, wie er erzählt. »Der Nächste bist dann du«, sagte man ihm.
Dann gaben sie ihm Bedenkzeit. Zwei Stunden musste er in einer Zelle mit etlichen Mithäftlingen warten. Eine kleine Ewigkeit, in der sein ganzes Leben an seinen Augen vorbeizog. Die Separatisten wollten Namen und Adressen von anderen Geistlichen wissen. Wassyljew hatte keine Antworten für sie, kam in seine Zelle zurück. In der Nacht machten sie ihm ein Angebot: Er könne gehen, wenn er schriftlich versichere, binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Ihm blieb keine Wahl, als zu unterschreiben.
Und wirklich: Er durfte gehen. Im Innenhof der Polizeistation ein letzter Moment der Angst. »Ich war sicher, eine Kugel in den Rücken zu bekommen, wie viele andere vor mir.« Doch niemand schoss, er kam mit dem Leben davon. Zur Sicherheit tauchte er vorerst in einer leer stehenden Datscha von Freunden unter. Alles ging gut. Als Anfang Juni 2014 ukrainische Truppen die Stadt befreiten, kochte ihnen Wassyljew viele Töpfe Borschtsch als Dank. Und entschied sich, zur ukrainischen Armee zu gehen. Als Militärkaplan.
Diese Aufgabe erfüllt ihn bis heute. Mittlerweile lebt er in Slowjansk, das einmal rund 110 000 Einwohner zählte und aktuell keine 15 Kilometer entfernt von der Front liegt. »Für mich war es völlig klar, dass ich bleibe, denn ich kann in dieser schwierigen Zeit niemanden zurücklassen. Ich werde hier sein bis zur letzten Minute«, sagt Wassyljew, als wir ihn per Zoom-Telefonat erreichen. Er sitzt in einem kleinen Hinterzimmer seiner Kirche, vollgeräumt mit religiösen Statuen und Devotionalien.
Fast alle seine Freunde und Bekannten seien weggegangen, einzig eine befreundete Krankenschwester sei noch da. In Slowjansk wie auch dem nahe gelegenen Kramatorsk sehe man fast nur noch Soldaten auf den Straßen, erzählt der Priester. Apotheken, Cafés und Läden seien längst geschlossen, auch gelte eine Sperrstunde von 18 bis 8 Uhr in der Stadt. »Die leeren Straßen machen einen traurig. Aber es blüht alles, den Frühling kann man nicht besiegen.«
Wassyljew ist mittlerweile in einer Kaserne mit den anderen Soldaten untergebracht. Seine Mutter lebt in Poltawa in der Zentralukraine und mache sich große Sorgen um ihn. Und auch er hat Angst, wie er erzählt: Wenn er abends zu Bett geht, weiß er nicht, ob er am nächsten Tag nicht schon unter russischer Besatzung aufwachen wird. Aber selbst in diesem Fall werde sich die Ukraine nicht unterwerfen lassen und am Ende siegen, sagt Wassyljew. »Größer als die Angst ist mein Glaube an unser Militär, an den Geist unserer Soldaten.«
Seine Aufgabe sieht er darin, den Soldaten Mut zu machen und Trost zu spenden. Keiner seiner Tage sei dabei wie der andere. Oft hält er sich im Hintergrund und arbeitet rein seelsorgerisch, betet gemeinsam mit den Soldaten. Manchmal hilft er dann auch in der Küche mit, schält Gemüse. An vielen Tagen aber geht er direkt zur Front. Dort müssen Verletzte behandelt, Tote abtransportiert und Beerdigungen organisiert werden. »Das ist alles andere als einfach, aber jemand muss es machen«, sagt Wassyljew. Es gibt aber auch schöne Momente: Seit Kriegsbeginn hat er fünf Taufen und zwei Hochzeiten durchgeführt. Krieg hin oder her, das Leben geht weiter.
Wichtig ist ihm außerdem, im Radio und online für die Menschen da zu sein. Zweimal wöchentlich, dienstags und donnerstags, macht er eine Livesendung im Armeeradio. In letzter Zeit nicht mehr ganz so regelmäßig, aber er bemüht sich darum. Zudem ist er auf Facebook aktiv, postet täglich Fotos und Berichte von Angriffen auf seine Heimatstadt, aber auch von ihm bei der Arbeit. Auf manchen Bildern ist er in Tarnuniform und Schutzweste zu sehen, umgeben von Waffen. Selber kämpft er aber nicht – das ließe sich nicht mit seinem Glauben vereinbaren.
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