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Das Browserfenster zur Welt
Es geht um Solidarität: Berit Glanz’ neuer Roman »Automaton« gibt Einblicke in das digitale wie analoge Prekariat
Sie machen die Drecksarbeit für Facebook, Google und Co: Zehntausende sogenannte Content-Moderatoren schauen Abertausende von Bildern an, die User täglich auf den Social-Media-Plattformen hochladen. Ihr Auftrag: Bilder, Tondokumente und Videos zu prüfen, ob diese wegen Gewalt- oder pornografischer Darstellungen entfernt werden müssen. Es ist ein psychisch extrem belastender Job; der Dokumentarfilm »The Cleaners« (deutscher Titel: »Im Schatten der Netzwelt«, 2018) über Content-Moderatoren auf den Philippinen hat dieses bis dato weithin unbekannte Phänomen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht.
In Berit Glanz’ neuem Roman ist die Protagonistin Tiff – die Ähnlichkeit zum Bilddateiformat gleichen Namens ist sicherlich kein Zufall – eine solche Content-Moderatorin in einer deutschen Großstadt, die namentlich nicht bezeichnet wird, vermutlich ist es Berlin. Beziehungsweise sie war es, denn der Anblick von toten Katzen, zerquetschten Hamstern und gequälten Kindern hat bei ihr beinahe täglich zu Panikattacken geführt. Daraufhin schmiss die alleinerziehende Mutter den Job hin und zog sich mit ihrem kleinen Sohn in die eigene Wohnung zurück. Ohne familiäres Netz oder Unterhalt zahlenden Partner blieb ihr nur die Möglichkeit, als Click- oder Crowdworkerin zumindest ein bisschen Geld zu verdienen. Denn das Versehen von Videos mit Zeitstempeln, die Zuordnung von Adjektiven zu Gesichtsausdrücken oder die Verschlagwortung von Fotos für Unternehmen bringt wenig ein – und ist furchtbar langweilig. Nach einer Stunde Arbeit fühlt Tiff sich »ausgeleert, als wären keine Wörter mehr in ihr«.
Auch ein neuer Autob, so heißen die Mini-Aufträge, die von den Firmen auf der Plattform Automaton eingestellt werden, entpuppt sich als äußerst langweilig, ist aber etwas besser bezahlt: Stundenlang soll Tiff die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera für ein Unternehmen namens ExtraEye ansehen. Dieses verspricht ihren Kunden Überwachung durch Künstliche Intelligenz (KI). Unklar bleibt, ob Tiff und die Crowdworker die Aufgabe der KI übernehmen oder die KI trainieren.
Doch dann wird die öde Tätigkeit durch eine ungewöhnliche Szene durchbrochen: Ein alter Mann, offensichtlich obdachlos, liest seinem Hund vor einem Rolltor einer Lagerhalle aus Büchern vor. Eine rührende Szene, die Empathie und Sympathie bei Tiff hervorrufen. Tage später allerdings sieht sie den Hund allein auf den Aufnahmen, er macht zudem einen traurigen Eindruck. Und dann kommen Wachmänner, packen ihn und bringen ihn in einem Auto fort.
Was aber ist ist mit dem Mann geschehen, fragt sich Tiff. Ist er Opfer eines Gewaltverbrechens geworden? Ist sie wie in Hitchcocks Klassiker »Das Fenster zum Hof« Zeugin eines Verbrechens geworden – nur via Browserfenster?
Das fragen sich auch zwei ihrer Arbeitskollegen, mit denen sie meist nach ihrer Schicht spät in der Nacht chattet und die ihr nicht nur das Gespräch auf dem Flur oder in der Kaffeeküche im Büro ersetzen, sondern die aufrichtig Anteil an ihrem Leben und ihren Problemen nehmen. Die drei fangen zusammen an zu recherchieren. Liefern die Aufnahmen Anhaltspunkte für den Ort der Lagerhalle? Offenbar befindet sich diese in Kalifornien. Sie fragen bei anderen Clickworkern an, ob sie weitere Hinweise haben. Irgendwann können sie den Standort eingrenzen und telefonieren Obdachlosenunterkünfte ab, ob sie einen Mann mit Hund kennen, der in letzter Zeit aber nicht mehr aufgetaucht ist.
Und so kommt Stella ins Spiel, eine ältere Frau, die in einer Suppenküche arbeitet und den verschwundenen Mann tatsächlich von einer lange zurückliegenden Arbeit auf einer Marihuana-Plantage her kennt und ihn in letzter Zeit auch in der Suppenküche getroffen hat. Schon zuvor hatte Glanz in verschiedenen Kapiteln diese neben Tiff zweite Protagonistin auf geschickte Art und Weise vorgestellt. Während Tiff zum modernen Prekariat gehört, entstammt Stella dem alten. In einer Holzfäller-Familie aufgewachsen, war sie Arbeiterin in einer Fischfabrik, Erntearbeiterin und ist nach dem Tod ihres Mannes in der Suppenküche beschäftigt. Zwei Existenzen am unteren Rand der Klassenpyramide.
Es ist faszinierend und spannend zugleich, wie Glanz diese Geschichte, die durchaus Anflüge eines Krimis hat, zu einer Geschichte entwickelt, in der es in erster Linie um Solidarität geht – und zwar um Solidarität von Menschen, die selbst kaum Geld haben, aber sich für einen Menschen einsetzen, der noch weniger besitzt und Hilfe benötigt. Das aufzuschreiben, mag an dieser Stelle etwas kitschig klingen, aber der Roman von Glanz ist das keineswegs. Er zeigt auf eindrucksvolle, geschickt arrangierte Art, wie ambivalent die Folgen der Digitalisierung sein können. Einerseits extrem belastend, andererseits neue Möglichkeiten eröffnend und Solidarität über Kontinente hinweg stiftend. Und er gibt Einblicke in eine Realität, die in der Literatur kaum eine Rolle spielt: die Welt der Lohnarbeit – in welcher Form auch immer.
Berit Glanz: Automaton. Berlin Verlag, 288 S., geb., 22 Euro
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