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Der Hölle entkommen
Wie Boris Zabarko die Shoah überlebte und nun vor Putins Krieg fliehen musste
»Wir retten uns vom Tod ins Leben«, sagt Boris Zabarko zu seiner Enkelin und seiner Nichte, als die drei auf abenteuerlichen Wegen vor dem Krieg in ihrer Heimat über Lwiw und Budapest nach Deutschland fliehen – ausgerechnet in jenes Land, das vor über 80 Jahren die Ukraine mit Terror, Leid und Zerstörung überzogen hatte. Der heute 86-Jährige überlebte den Holocaust. Sechs Jahre war er, als er ins Ghetto von Schargorod in Transnistrien, im rumänischen Besatzungsgebiet, deportiert worden war. Die Bukarester Militärdiktatur unter General Ion Antonescu war am heimtückischen Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 beteiligt gewesen und bekam dafür von den deutschen Aggressoren auch einige eroberte Gebiete zugeschanzt.
Boris Zabarko hat nach der Befreiung vom Faschismus an der Universität von Czernowitz studiert und bis zu seiner Rente am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik gearbeitet. 1971 bis 1991 war er Mitglied der sowjetisch-deutschen Historikerkommission. Dieser galt dann auch die erste Frage, die Wolfgang Benz, emeritierter Professor der TU Berlin und langjähriger Leiter des dort ansässigen Zentrums für Antisemitismusforschung, an seinen ukrainischen Kollegen am vergangenen Donnerstagabend in der Berliner Topographie des Terrors richtete. Der westdeutsche Forscher wollte wissen, wie ergiebig die Arbeit mit den DDR-Historikern war.
Zabarko betonte, dass in jenem Gremium »intelligente und integere Menschen« kollegial und nach streng wissenschaftlichen Regeln zusammenarbeiteten. Deren Hauptaugenmerk habe der Geschichte des Zweiten Weltkrieges respektive des Großen Vaterländischen Krieges sowie menschlichen Schicksalen in diesen gegolten. »Was damals geleistet wurde, war ein solides Fundament für weitere Forschungen.« Über die vor 25 Jahren gegründete Deutsch-Russische Geschichtskommission wurde nicht gesprochen; sie hat übrigens kurz nach dem von Putin befohlenen Angriff auf die Ukraine ihre Arbeit ausgesetzt – eine Entscheidung von bundesdeutscher Seite.
Zabarko, Autor von nicht weniger als 200 Büchern und Artikeln, reflektierte die wissenschaftliche Aufarbeitung des Holocaust in Vergangenheit und Gegenwart. In der Sowjetunion sei der millionenfache Mord der Nazis an den Juden tabu gewesen. Wenige Jahre nach dem Sieg über Nazideutschland gerieten in der UdSSR alle Juden unter Generalverdacht, ward alles Jüdische verpönt, wurden jüdische Schulen und Theater geschlossen. Bürger jüdischer Herkunft oder Religion sahen sich Repressalien ausgesetzt. Zabarko erinnerte an die »Ärzteverschwörung« 1952/53, ein Hirngespinst Stalins. Angeblich hätten jüdische Ärzte ein Komplott zur Ermordung des Kreml-Herrn und weiterer Mitglieder der Sowjetregierung geschmiedet. In der Folge kam es zu Massenverhaftungen und Schauprozessen, die von antisemitischer Propaganda in den Medien begleitet wurden, sowie zu willkürlichen Exekutionen. Im Februar 1953 brach Moskau die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, die fünf Jahre zuvor aufgenommen worden waren, mit der Proklamation des jüdischen Staates. Golda Meir, 1998 in Kiew geboren, die in ihrer Kindheit antisemitische Pogrome im russischen Zarenreich erlebt hatte, Anfang der 70er Jahre Premierministerin von Israel, war die erste Botschafterin von Tel Aviv in der Sowjetunion.
Zur Sprache kam während der Podiumsdiskussion in Berlin auch das »Schwarzbuch« über den deutschen Massenmord an den sowjetischen Juden, verfassst von den russischen Schriftstellern Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman, das Stalin – nachdem es bereits in Druck gegangen war – einstampfen ließ. Ehrenburg und Grossman hatten bereits während des Krieges Material gesammelt. Nur einige handschriftliche Exemplare ihres »Schwarzbuches« sind überliefert. Auf deren Grundlage konnte die Dokumentation Anfang der 90er Jahre doch noch publiziert werden, zunächst in Israel. 1994 erschien sie, wie hier zu ergänzen wäre, auch in deutscher Übersetzung, dank der DDR-Historiker Heinz und Ruth Deutschland.
Vor dem Überfall der Wehrmacht lebten in der Ukraine 2,7 Milllionen Juden, informierte Zabarko. Heute sind es nur noch knapp über 100 000. Bezüglich der späten, erst nach dem Zerfall der UdSSR begonnenen Aufarbeitung jüdischen Sterbens unter deutscher Okkupation merkte Zabarko selbstkritisch im Namen seiner Zunft wie auch generell sowjetischer Holocaust-Überlebender an: »Daran sind wir auch selbst schuld.« Man habe sich staatlichem Tabu gefügt.
Benz warf ein, dass Forschung, Lehre und Publizistik in der Bundesrepublik sich auch erst seit den 80er Jahren des Genozids am europäischen Judentum angenommen hätten und dass bis heute noch zu wenig über den Völkermord im Osten bekannt sei. Zabarko bestätigte, im Westen sei lediglich das Massaker in Babyn Jar bekannt, einer Schlucht bei Kiew, in der am 29. und 30. September 1941, innerhalb von 48 Stunden, über 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder von deutschen »Einsatzgruppen« ermordet worden waren. »Vielleicht sind noch sechs weitere Orte der Verbrechen bekannt«, konzedierte Zabarko. Allein in der Ukraine gäbe es jedoch 2000 Stätten, an denen die Aggressoren ihren mörderischen Antisemitismus austobten.
Dass seine Bücher, die Erinnerungen »Nur wir haben überlebt« und das voluminöse, 1300 Seiten umfassende wissenschaftliche Werk »Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine« deutsche Verlage fanden, erfüllt den Shoah-Überlebenden mit Genugtuung, wertet er als ein Zeichen der Versöhnung und Wiedergutmachung. Ausdrücklich bedankte sich Zabarko bei zivilgesellschaftlichen Initiativen in Deutschland wie dem Verein Kontakte – Kontakty und der Aktion Sühnezeichen, »ohne deren Unterstützung wir unter den heutigen gefährlichen, harten und schwierigen Bedingungen nicht überleben könnten«. Womit der Veteran die Situation der Juden in der Ukraine auch schon vor Putins Angriffskrieg meinte.
»Die Lebensbedingungen und Renten von Holocaust-Überlebenden sind unvergleichlich schlechter und niedriger als die jüdischer Menschen in westlichen Staaten; die Chancen für Juden, eine solide Ausbildung und gut bezahlte Arbeit in meiner Heimat zu erhalten, sind äußerst bescheiden.« Der Präsident der ukrainischen Vereinigung ehemaliger jüdischer Häftlinge der Ghettos und NS-Konzentrationslager berichtete, dass man Geldspenden wie auch Hilfe in Form von Lebens- und Arzneimitteln sowie medizinischen Geräten zu schätzen wisse.
Abschließend zeigte sich Zabarko wenig optimistisch: »Auch bei einem potenziellen Sieg der Ukraine wird sich die Lage der Juden in meiner Heimat, aber auch polnisch- und russischstämmiger Bürger nicht wesentlich bessern.«
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