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Umverteilen statt Dienstverpflichten
Anstelle eines Pflichtdienstes fürs Gemeinwesen sollte Frank-Walter Steinmeier lieber mehr Steuern auf große Vermögen vorschlagen, findet Ingar Solty
Die meisten Bundesbürger kennen den Bundespräsidenten nur von Weihnachtsansprachen und Ordensverleihungen. Dass er Kanzler absetzen und Kriege erklären kann, wissen nur wenige. Als Faustregel kann gelten: Je weniger man von ihm mitbekommt, umso besser scheint es um ein Land bestellt sein. Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier darf man zugute halten, dass er sich wohltuend von seinem Vorgänger Joachim Gauck abhebt. Der hatte vor seiner Wahl 2012 hart rechte Positionen vertreten: Er setzte das »Dritte Reich« mit der DDR gleich, wetterte gegen den Sozialstaat. Nach seiner Wahl polterte er weiter: für mehr Kriegseinsätze der Bundeswehr und gegen eine »glückssüchtige« Gesellschaft.
Vor zwei Tagen endete jedoch die von Steinmeier gewohnte geräuschlose Amtsführung. Am Wochenende sprach er sich für die Einführung eines Pflichtdienstes aus: »Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein«. Man komme »raus aus der eigenen Blase«, treffe »ganz andere Menschen«, könne helfen: »Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.« Das klingt gut gemeint und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt besorgt. Allerdings hat auch Steinmeier eine Vorgeschichte: Als Kanzleramtschef von Gerhard Schröder (1998-2005) war er der Architekt der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze. Er war der Ideologe hinter der Gesundheitsreform von 2002, bei der das System der Fallpauschalen eingeführt wurde, und hinter der Rentenform von 2002, die Arbeitgeberbeiträge senkte und die Renten kürzte. Auch massive Steuersenkungen für Reiche sind ihm zu verdanken.
Kurz: Es gibt in Deutschland wohl nur wenige, die mehr zur Auflösung von Solidarität beigetragen haben als er. Und das macht seinen Vorschlag so perfide. Im Grunde ist es so: Erst polarisieren Leute wie Steinmeier mit neoliberaler Politik die Gesellschaft ökonomisch, tragen die erbarmungslose Logik des Marktes in die sensibelsten gesellschaftlichen Bereiche. Und wenn sie sehen, dass eben diese Politik linken Widerstand genauso hervorruft wie rechtsautoritären Nationalismus und rechten Terror, schlagen sie plötzlich scheinbar Gemeinwohlorientiertes vor, das wenigstens oberflächlich zusammenfügen soll, was ihr früheres Handeln zerbrochen hat.
Dabei könnte man auch mit der Logik »Markt vor Staat« brechen, die großen Vermögen abschöpfen. Man könnte sich zurückholen, was die Großaktionäre von Vonovia und Deutsche Wohnen, von Asklepios und Rhön-Klinikum AG, von BMW und Bosch in 40 Jahren neoliberaler Politik aus den Arbeitenden als Dividende herausgepresst haben. Man könnte dafür sorgen, dass Erzieher, Pflegekräfte und Lehrerinnen nicht mehr auf dem Zahnfleisch gehen. Man könnte einen neuen Gesellschaftsvertrag stiften, der nationalistischer Entsolidarisierung und Rassismus das Wasser abgräbt.
Aber weil man dafür in den Spiegel schauen und sich selbst hinterfragen müsste, weil man dafür die Machtverhältnisse in Deutschland umstürzen müsste, entscheidet man sich für eine Idee, die billige Arbeitskräfte im Sozialbereich verspricht: für eine »Pflichtzeit«. Dabei müssten Steinmeier und Co. eigentlich wissen, wie nah sie damit eigentlich dem letzten Versuch kommen, die Zerstörungen einer liberalkapitalistischen Wirtschaft durch Gemeinschaftsideologie zu übertünchen. Steinmeier sagt: »Ich habe bewusst Pflichtzeit gesagt, denn es muss kein Jahr sein.« Er hätte also offenbar kein Problem, wenn man doch ein »Pflichtjahr« probieren würde. Ein solches gab es schon einmal: Es wurde 1938 von den Nazis für junge Frauen eingeführt, um ihnen ein nationales Gemeinschaftsgefühl einzuimpfen, während die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die in der Weltwirtschaftskrise den Faschismus heraufbeschworen hatten, dieselben blieben.
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