Aktivismus statt Kontemplation

Die diesjährige Berlin-Biennale zeigt künstlerische Arbeiten, die sich mit Umweltzerstörung und Kolonialismus auseinandersetzen

  • Larissa Kunert
  • Lesedauer: 5 Min.
Fest verschlossen? Die australische Künstlerin Mai Nguyễn-Long füllte Haushaltsgläser mit allerlei Objekten und Flüssigkeiten.
Fest verschlossen? Die australische Künstlerin Mai Nguyễn-Long füllte Haushaltsgläser mit allerlei Objekten und Flüssigkeiten.

»Still Present!« lautet der Titel der 12. Berlin-Biennale, die letzten Freitag an sechs Ausstellungsorten in der Stadt eröffnet wurde. Es soll also um historische Kontinuität gehen, um etwas, das immer noch gegenwärtig ist. Im Programm der Ausstellungsreihe manifestiert sich eine klare politische Botschaft: Viele Texte prangern die Auswirkungen des Kolonialismus der letzten Jahrhunderte an. Präsent sind diese zweifellos. Bis heute widerfährt vielen Nachfahren der Millionen von Menschen, die von Kolonisten versklavt, ermordet oder aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ökonomische Benachteiligung und Rassismus. Zudem legte der Kolonialismus als elementarer Bestandteil des frühen Kapitalismus durch kompetitive Ressourcengewinnung nicht nur den Grundstein für den westlichen Wohlstand, sondern auch für eines der drängendsten Probleme der Gegenwart: die globale Erderwärmung und Umweltzerstörung. Auf der Biennale sind nun viele Arbeiten zu sehen, die Kausalbeziehungen zwischen beiden Phänomenen künstlerisch herausgearbeitet haben.

Kuratiert wird die Schau von einem sechsköpfigen internationalen Team um den französischen Künstler Kader Attia. Auch die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler stammen aus den verschiedensten Teilen der Welt, viele aus dem globalen Süden. Statt um etablierte Namen handelt es sich bei einem großen Teil von ihnen um zumindest außerhalb der Kunstwelt weitgehend Unbekannte, viele ohne Wikipedia-Eintrag. Die meisten folgen mit ihrer künstlerischen Praxis einem dezidiert politisch-aktivistischen Ansatz und verkörpern damit musterhaft den Zeitgeist. Ein Merkmal desselben sei, wie zuletzt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich prognostizierte, das allmähliche Verschwinden der sogenannten autonomen Kunst. Damit ist solche Kunst gemeint, die sich hermetisch vor der Außenwelt verschließt und von den Rezipienten enträtselt werden muss. Stattdessen vermische sich die Kunst Ullrich zufolge zunehmend mit anderen Lebensbereichen und formuliere zum Beispiel konkrete politische Anliegen. Man kann davon ausgehen, dass sich dieses System selbst verstärkt: Denn wer den Trend mitmacht und politische Kunst produziert, muss sich um weitere Fördergelder weniger Sorgen machen als andere.

Waren lange sogenannte »postkoloniale« Ansätze in Kunst und Theorie in aller Munde, wird seit einiger Zeit vermehrt das Attribut »dekolonial« sowie »Dekolonisierung« verwendet. Die Berlin-Biennale ist hier keine Ausnahme. So findet sich im Vorstellungstext der Schau auch die Frage: »Wie lässt sich eine Dekolonisierung der Künste denken – von der Restitution geplünderter Güter bis hin zu einer antikolonialen Erinnerungskultur?« Einen der sechs Ausstellungsorte bilden zudem die Räume des von der Stadt geförderten Projekts »Dekoloniale«, das die koloniale Geschichte des Deutschen Reichs aufarbeiten und mit neuen Erinnerungsformen verknüpfen will.

Warum nun also »dekolonial«? Mit dem Präfix »de« wird – im Gegensatz zu »post« – dem Wort »kolonial« eine spezifisch aktivistische negierende Komponente verliehen. Die Folgen der Kolonisierung sollen mit dieser neuen Leitlinie nicht länger nur bezeichnet, sondern aufgehoben werden. Damit ist auch ein Großteil der Kunst auf der Biennale explizit nicht zur kontemplativen Rezeption oder gar zum Genuss vorgesehen. Sie soll im Gegenteil Strategie und Mittel sein im Kampf gegen globale Umweltzerstörung und soziale Missstände, gegen Rassismus und die ökonomische Benachteiligung der Menschen, die aus ehemals kolonisierten Regionen stammen.

Schaut man sich in der Akademie der Künste am Hanseatenweg um, einem der sechs Ausstellungsorte, fällt der hohe Anteil an Videoarbeiten ins Auge. Das ist nicht überraschend, schließlich eignet sich das Medium Film – etwa im Gegensatz zur Malerei – besonders gut dazu, mit einer Fülle an dokumentarischem Material historische Zusammenhänge darzustellen. So beschäftigt sich etwa der Film »Traces« des algerischen Künstlers Ammar Bouras mit dem Unfall, der sich bei dem französischen Kernwaffentest Béryl am 1. Mai 1962 in der algerischen Wüste ereignete. Nach der unterirdischen Explosion gelangte damals radioaktive Strahlung durch ein Leck im Stollen des Berges Tarouirt Tan Afella in die Atmosphäre. Zahlreiche Menschen trugen schwere gesundheitliche Schäden davon. Bis heute ist die ehemalige Kolonialmacht Frankreich Algeriens Forderung, die verseuchten Gebiete in der Sahara zu dekontaminieren, nicht nachgekommen. Bouras collagierte für eine Fotoarbeit, die neben seinem Film zu sehen ist, Aufnahmen des Explosionsortes aus unterschiedlichen Jahrzehnten und Blickwinkeln, wodurch auf die Fragmenthaftigkeit von historischen Erzählungen verwiesen werden soll.

Ebenso wie Bouras zeigt auch die US-amerikanische Künstlerin Imani Jacqueline Brown einen Zusammenhang von Kolonialismus und Umweltzerstörung auf. Ihre Videoinstallation mit dem Titel »What remains at the ends of the earth?« beschäftigt sich mit der Geschichte der Sklaverei und der Ölförderung im US-Bundesstaat Louisiana. Die Künstlerin legte dafür unter anderem eine geographische Karte der Ölquellen und Pipelines in dem Bundesstaat, gewonnen aus Satellitenbildern, über Aufnahmen des Mississippi-Flussdeltas. Die Punkte und Linien wirken ein wenig wie Sternbilder am Himmel. Eine Stimme erzählt dazu von der Bewirtschaftung des Landes durch Sklavinnen und Sklaven und der Zerstörung indigener Lebensweisen. Wie man erfährt, pflanzten versklavte Menschen einst im Mississippi-Flussdelta Weiden und Magnolien, um die Gräber Verstorbener zu markieren. Einige der Bäume stehen offenbar noch heute und dienen Umweltaktivisten im Widerstand gegen weiteren Raubbau an der Natur – sie sind »still present«.

Die australische Künstlerin Mai Nguyễn-Long füllte für ihre Installation »Specimen (Permeate)« Haushaltsgläser mit verschiedenen Flüssigkeiten und Objekten – unter anderem nackten Kinderpuppen, denen teilweise Gliedmaßen fehlten – und erschuf so ein medizinisches Gruselkabinett. Nguyễn-Long will damit die Katastrophe ins Gedächtnis rufen, die ausgelöst wurde, als das US-amerikanische Militär im Vietnamkrieg das Herbizid Agent Orange einsetzte, um Nutzpflanzen zu zerstören und Wälder zu entlauben. Das chemische Gift sorgte dafür, dass zahlreiche Vietnamesinnen und Vietnamesen bis heute unter schweren gesundheitlichen Schäden leiden. Mit ihrer Arbeit spiegelt die Künstlerin die obskure Realität: So gibt es etwa im Tu-Du-Krankenhaus in Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam tatsächlich ähnliche Gläser, in denen Föten und Organe aufbewahrt werden, die vom Einfluss des Gifts lebensunfähig gemacht wurden.

Mit am eindrücklichsten sind entgegen dem dezidiert politischen Programm der Biennale einige kleinformatige Arbeiten, die keine klaren Botschaften enthalten, etwa die Radierungen der indischen Künstlerin Tejswini Narayan Sonawane. Animalische und menschliche Anlitze vermischen sich hier in allerlei Strichen. Die in gedeckten Farben gehaltenen Arbeiten beschwören durch ihre fantastisch-düstere Motivik vielerlei Assoziationen herauf. Hier erklärt sich im Gegensatz zu vielen anderen Ausstellungsstücken nicht geradeheraus, womit wir es zu tun haben und wem oder welchem Zweck diese Gestalten dienen könnten. Das ist bei aller Dringlichkeit der politischen Anliegen durchaus erfrischend.

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