Liebhaber des Profanen

Nachdenken wird zur Kunstform: »Die Jahreszeiten der Ewigkeit« von Karl-Markus Gauß

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ein feiner Zug von Karl-Markus Gauß, dass er in seinem neuen Journal an Alexandru Vona erinnert: einen Mann jüdischer Herkunft, dem es gelang, das nationalsozialistische Massenmorden in Rumänien zu überleben. In der Nachkriegszeit wirkte er als Architekt. Als Vona sehr alt geworden war, entdeckte man zufällig ein von ihm in jungen Jahren verfasstes Romanmanuskript, das er schon längst vergessen hatte. Dessen Veröffentlichung fand weltweit Beachtung. Die Art und Weise, wie Gauß nun Alexandru Vona würdigt, macht aus diesem Autor eines einzigen Buches einen wichtigen und unverbrüchlichen Teil der Literaturgeschichte.

Derartige Porträts randständiger, übersehener oder vergessener Schriftsteller*innen gibt es in jedem Journal von Gauß zuhauf. Sechs solcher Bücher hat er inzwischen publiziert. Sie alle leisten etwas, das unser atemloser Literaturbetrieb immer weniger leisten möchte und kann: ein Literaturgedächtnis zu sein, in dem Autor*innen, die abseits des Rampenlichts agieren, jene Bedeutung zuerkannt wird, die sie tatsächlich besitzen.

Gauß’ neues Journal heißt »Die Jahreszeiten der Ewigkeit«. Es beginnt mit Schilderungen von Spaziergängen durch das heimatliche Salzburg. Wobei allerlei Erinnerungen wachgerufen werden, etwa an einen ebenfalls schreibenden Weggefährten, der sich mit den Jahren – von der sich selbst unterstellten Wichtigkeit mächtig aufgebläht – zu einem derart unangenehmen Zeitgenossen entwickelte, dass nach seinem Ableben niemand bereit war, über ihn ein freundliches Wort in Form eines Nachrufes zu äußern.

Dann wieder geht es um die lieben Autofahrer. Wenn man diese früher auf zu schnelles Fahren hingewiesen habe, erzählt Gauß, gaben sie sich zumeist einsichtig. Doch dann wurden die Sitten rauer. Nun bellte ein von ihm ermahnter Raser unseren Autor mit den Worten an: von einem Blockwart wie ihm ließe er sich gar nichts sagen. Woraufhin der Hass auch in Gauß mächtig anschwoll: »Ich bin grundsätzlich gegen Gewalt«, räsoniert der Schriftsteller, »aber die Gesellschaft hat sich in einem Maße brutalisiert, dass es nicht ausreicht, immer nur meinen Pazifismus aufzuwenden, um sie zu humanisieren.«

Das sind für ihn ungewohnte Töne. Freilich geht es in Gauß’ Journalen nie nur um das, was er konkret notiert. Seine Bücher sind kunstvoll montierte Gewebe: Haben wir Gauß eben als jemanden erlebt, den die Grobheit anderer mitnimmt oder der sie dem Säurebad seiner Kritik unterzieht, agiert er in anderen Momenten selbst als Grobian. Beides wird in Beziehung gesetzt und entzündet so Gedanken. Für Leser bringt diese Art des Schreibens den unschätzbaren Vorteil mit sich, eine Sache aus vielerlei Perspektiven betrachten zu können.

Entlarven ist diesem Autor Passion. Unablässig analysiert Gauß die geistige Lage der Zeit, unablässig stellt er die Sprache des politisch-medialen Personals ebendieser Zeit angemessen gnadenlos bloß. Da kommt natürlich auch Österreichs Schon-wieder-nicht-mehr-Kanzler Sebastian Kurz nicht um Erwähnungen im aktuellen Journal herum. Vergleicht Gauß diesen mit Frankreichs Präsident Macron, gelingt es ihm, Jahre der jüngeren europäischen Geschichte in einem einzigen Satz trefflich zusammenzufassen: »Mit kaltem Geschäftsinteresse beobachten die glühenden Europäer, wie es gelingen könnte, soziale Errungenschaften zu demontieren, ohne dass die verachteten Verlierer des Experiments Rattenfängern nachzulaufen und den freien Handel mit ihrem aufwallenden Nationalismus zu stören beginnen.«

Karl-Markus Gauß hat in vielem mit der linken Bewegung der 68er sympathisiert, ist dabei aber nicht stehen geblieben. Das wird beispielsweise deutlich, wenn der Atheist zu erkennen gibt, wie sehr ihn der Atheismus anderer Leute abstößt. Und zwar weil sich dieser nicht »Überlegung, Kritik, Selbstprüfung«, sondern naseweiser Oberflächlichkeit verdanke. Gauß hingegen lehnt Religion nicht nur ab, er weiß sie auch zu achten. Was Folge seines Wissens über Dinge ist, die lange zurückliegen. Beispielsweise über die eminente Rolle von Religionen in unserer geistesgeschichtlichen Entwicklung und bei der Ausprägung ziviler Umgangsformen.

Zuweilen lassen Gauß’ Sprachkunst und intellektuelle Scharfzüngigkeit an einen österreichischen Klassiker denken, an Karl Kraus. Wo aber etwa Kraus-Schüler wie Hermann L. Gremliza, Wiglaf Droste oder Hans Wollschläger stets auf andere zeigen, wenn es darum geht, Ursachen für gesellschaftliche Schäbigkeit kenntlich zu machen, da zeigt Gauß auch auf sich, macht er seine gedanklichen Suchbewegungen, seine Widersprüche und sogar prekäre Begabungen wie seinen Hass sichtbar. Ebendies ist es, was eine wahrhaft aufklärerische Haltung ausmacht. Zivilisiertheit, wird bei Gauß auf jeder Buchseite schlagend deutlich, ist nichts Gegebenes, nichts Festes, sie muss jeden Tag aufs Neue äußeren wie inneren Umständen abgerungen werden.

Und so ist die Frage, wie man nicht auf den Weg gerät, der hinführt zu Zynismus, Bitterkeit oder Geltungssucht, zentrales Thema in Gauß’ neuem Buch. Rezepte enthält es löblicherweise nicht. Schreiben, so lernen wir, kann helfen, ist diesem Dichter aber keineswegs das Höchste. Ebenso wichtig sind das Kino, das Familienleben oder weinseelige Gespräche. Das Vergängliche und Profane also, als dessen genießerischer Liebhaber sich Gauß an so mancher Journalstelle zeigt. »Mir ist beides immer gemeinsam gelungen oder beides missraten, der Alltag und die Literatur.«

Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit, Paul-Zsolnay-Verlag, 320S., geb. 25€.

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