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Flexibel, aber unbezahlt
Katja Kipping sollte Selbstorganisierung nicht romantisieren, meint Nora Noll
Übermüdung, Frustration und das ständige Gefühl, nicht genug zu tun: Burnout-Aktivismus ist in meinem Umfeld weitverbreitet. Wenn es um die Unterstützung von Geflüchteten geht, aber auch um Nachbarschaftshilfe, Anti-Repressionsarbeit, Demo-Orga und, und, und … Überall folgt früher oder später auf das Gefühl der Dringlichkeit die Angst, Menschen im Stich zu lassen und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden.
In vielen Bereichen können und wollen Aktivist*innen nicht auf staatliche Entlastung pochen. Die autonome Selbstorganisierung laugt zwar aus, eine Bürokratisierung stellt aber oft keine Alternative dar. Anders bei den Ankunfts-Teams am Hauptbahnhof, ZOB und Südkreuz. Hier ist eine politische Unabhängigkeit nicht notwendig, alle Fraktionen von Linke bis CDU stehen hinter der Willkommensarbeit. Und die Freiwilligen betonen selbst, dass sie gerne von hauptamtlichen Strukturen ersetzt werden würden.
Warum also stehen auch nach 100 Tagen übernächtigte Studierende im Untergeschoss des Hauptbahnhofs, um Menschen in Empfang zu nehmen? Warum rufen Geflüchtete bei Problemen lieber die Freiwilligen an, als sich an offizielle Stellen zu wenden? Es ist die Wendigkeit, die Flexibilität der »basisdemokratischen Organisierung«, so sagt es Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) selbst. Und natürlich: Wo die Verwaltung Wochen braucht, um die Verlegung von Steckdosen am ZOB zu genehmigen, holen die Ehrenamtlichen einfach kochendes Wasser für Tee aus dem Hotel nebenan. Aber Kipping macht es sich zu einfach, wenn sie die Kooperation von schnellem Ehrenamt und strukturierter Verwaltung romantisiert. Denn es gäbe andere Lösungsansätze als die komplette Umkehr, also die Arbeit »brachial« vom Katastrophenschutz übernehmen zu lassen. Sie könnte den Freiwilligen mehr Hauptamtliche zur Seite stellen, sie könnte mehr Geld lockermachen, um zumindest finanzielle Sorgen zu beheben, und mit einer »One Stop Agency« Geflüchtete so betreuen lassen, dass sie nicht auf persönliche Handynummern von Freiwilligen angewiesen sind. So wäre Berlin für jede größere Fluchtbewegung gewappnet.
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