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Zwischenziel erreicht
Die Ukraine ist der EU-Mitgliedschaft nach langjährigen Bemühungen einen bedeutenden Schritt näher gekommen
»Ukrajina ze Jewropa!« – »Die Ukraine ist Europa!« Wer sich im zweitgrößten Land des Kontinents für eine Annäherung an die Europäische Union stark macht, wird nicht müde, diesen Slogan zu wiederholen. Nach innen als Selbstbestätigung, nach außen, um ein Zeichen an Brüssel und die Menschen in Westeuropa zu senden. Letzteres ist offenbar angekommen: Am Freitag empfahl die EU-Kommission, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen. Präsident Wolodymyr Selenskyj bedankte sich auf Twitter für die »historische Entscheidung«.
Der ukrainische Blick nach Westen ist fast so alt wie der moderne Staat selbst. Bereits 1994 schloss das Land das erste Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union. Zwei Jahre später sprach sich der erste Präsident Leonid Kutschma in einer Rede vor der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union für die Westintegration aus. Er hoffte, die Ukraine werde in ihrer Absicht verstanden, eine partnerschaftliche Kooperation mit der EU zu etablieren und sich aktiv bei der Gestaltung der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur zu beteiligen. Das Ziel der vollen EU-Mitgliedschaft folge dabei nicht einer Mode oder politischer Romantik, sondern sei eine »profunde pragmatische Entscheidung«. Schließlich werde die EU das Image Europas im 21. Jahrhundert prägen, so Kutschma damals. Beim EU-Ukraine-Gipfel 1998 betonte er, sein Land erwarte ein Signal einer langfristigen Beitrittsperspektive und forderte Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen. Kutschma war es auch, der 2003 den »Europatag« in seinem Land einführte, mit dem die Regierung die Ukrainer*innen mit europäischen Werten, Traditionen sowie Gemeingut vertraut machen und die europäische Identität verbreiten will.
2004 bewies Wiktor Juschtschenko, dass man mit einem pro-europäischen Kurs Wahlen gewinnen kann. Unter ihm als Präsidenten wurde die EU-Mitgliedschaft zum strategischen Ziel. Brüssel erneuerte zwar mehrere Abkommen, hielt sich aber beim Beitrittswunsch zurück. Statt einer wirklichen Perspektive kamen die Östliche Partnerschaft und später das Assoziierungsabkommen. Es war nicht das, was sich die Ukraine erhofft hatte, ermöglichte aber die schrittweise Annäherung an europäische Standards und den europäischen Markt. Als sich der neue Präsident Wiktor Janukowytsch weigerte, das Abkommen zu unterzeichnen, gingen Massen auf die Straße. Mit dem Euromaidan entledigten sich die Ukrainer*innen nicht nur des ungeliebten Präsidenten, der nach Russland floh. Sie setzten auch ein deutliches Zeichen pro Europa.
Der erste Nach-Maidan-Präsident, Petro Poroschenko, machte den Beitritt zur EU (und zur Nato) zu seiner Agenda. Anfang Februar 2019 brachte er eine Änderung der Verfassung durch. Seitdem ist in der Präambel von der »Unumkehrbarkeit« des europäischen Kurses der Ukraine die Rede.
Die Hartnäckigkeit, mit der die verschiedenen ukrainischen Regierungen am EU-Ziel festhielten, ist angesichts der Enttäuschungen, die Brüssel zumeist bereitete, durchaus erstaunlich. Von der Östlichen Partnerschaft etwa war die Ukraine »nie besonders begeistert«, stellte die Historikerin und Politikexpertin Iryna Solonenko 2020 in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung fest. Denn aus Kiewer Sicht blieb die Östliche Partnerschaft stets hinter den Erwartungen zurück und bot keine vertieften Beziehungen mit dem europäischen Staatenbund. Größter Knackpunkt war die fehlende Aussicht auf eine Mitgliedschaft. Als man in Kiew erkannte, dass Brüssel den Beitritt der Ukraine nicht in Betracht zog, suchte man nach praktischen Möglichkeiten zur Integration in den EU-Binnenmarkt, etwa in den Bereichen Infrastruktur, Energie, Finanzmärkte oder Zoll. Auch 2020 wünschte sich die Ukraine ein sicherheitspolitisches Engagement von der EU. Solonenko sprach auch »mehr Glaubwürdigkeit seitens der EU« an, beispielsweise bei Sanktionen gegen Russland, die man sich in Kiew erhoffte.
Anders als Brüssel konnten die ukrainischen Regierungen jedoch die eigenen Landsleute vom Slogan »Die Ukraine ist Europa« nach und nach überzeugen. In einer Untersuchung des Rasumkow-Zentrums definierten sich im Juni 2021 41,2 Prozent der Ukrainer*innen als Europäer*innen. 2005 waren es noch fünf Prozent weniger gewesen. Bei einer Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie sprachen sich im vergangenen Dezember sogar 67 Prozent der Befragten für einen Beitritt zur Europäischen Union aus. Deutlich wurde aber auch, wie unterschiedlich die einzelnen Regionen des riesigen Landes immer noch denken. Waren im Westen und Zentrum der Ukraine 75,5 Prozent der Befragten für die EU-Perspektive, konnten sich im Süden und Osten nur 53,5 Prozent damit anfreunden. Hier sprach sich jede*r Dritte gegen einen EU-Beitritt aus.
Der russische Angriff am 24. Februar beschleunigte den Prozess immens. Bereits vier Tage später unterzeichnete Selenskyj den Aufnahmeantrag. Zuvor hatte er erklärt, sein Land habe ein Recht auf die Mitgliedschaft. Und er war sich wohl bewusst, dass die Ukraine ohne den Krieg aktuell wohl keine Chance mit ihrem Anliegen hätte. Im großen Rummel ging die Einsicht unter, dass die Ukraine nicht schnell würde beitreten können. Dass der Nachbar Moldau und die Kaukasusrepublik Georgien nun auch Mitgliedsanträge gestellt haben, kommt in Kiew nicht gut an. Man unterstütze die beiden Länder zwar in ihrem Bestreben, allerdings wolle man mit ihnen nicht zusammengeworfen werden, betonte die Vizepremierministerin für Europaintegration, Olga Stefanischina, gegenüber der »Deutschen Welle«. Grundsätzlich sieht Kiew sich als den besten Beitrittskandidaten und ist überzeugt, sogar besser zu sein als Länder, die diesen Status bereits haben. Verweigere Brüssel der Ukraine die Zusage, würden die Europäer einen historischen Moment verspielen, legte Stefanischina vergangene Woche beim Kiewer Sicherheitsforum nach. Eine negative Entscheidung käme aus ukrainischer Sicht einem Verrat gleich. Vor allem, weil man aus Kiewer Sicht seit mehr als drei Monaten Europa verteidigt.
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