- Berlin
- Razzia in Hohenschönhausen
Illegalisiert und ausgebeutet
Das Aufenthaltsrecht zwingt Vietnamesinnen in ausbeuterische Verhältnisse
Ein riesiges Polizeiaufgebot war am Donnerstag an einem Asiamarkt in der Marzahner Straße in Hohenschönhausen im Einsatz: Insgesamt 260 Kräfte von der Berliner Polizei, der Steuerfahndung, vom Hauptzollamt sowie dem Bezirksamt Lichtenberg hatten den Markt umstellt und kontrollierten die dort anwesenden Personen. Selbst Hubschrauber waren im Einsatz. Eine Marktmitarbeiterin, die an diesem Tag erst später zur Arbeit kommen wollte, erzählte, dass niemand ein- und ausgelassen wurde.
»Es geht um den Verdacht des Menschenhandels zum Zwecke der Arbeitsausbeutung«, sagte Polizeisprecherin Fiona Konrad zu »nd«. Am Ende hätte es 13 Festnahmen gegeben: Zwölf Personen, weil sie sich illegal in Deutschland aufhielten sowie ein Mann, der unter dem Verdacht steht, ein Menschenhändler zu sein. Alle Festgenommenen seien laut Polizeiangaben Vietnames*innen gewesen.
Generalverdacht Menschenhandel
Polizeirazzien gegen Vietnames*innen, denen Menschenhandel vorgeworfen wird, finden seit einigen Jahren recht regelmäßig statt. Sie sind unter Anwält*innen sowie auch innerhalb der vietnamesischen Community umstritten. Der Grund: Die oft aufwändig ermittelten Tatvorwürfe bestätigen sich selten. Oft werden Beschuldigte oder sogar Festgenommene nicht einmal angeklagt, oder in der Anklage tauchen lediglich weniger schwere Vorwürfe auf als der des Menschenhandels. In anderen Fällen kommt es zwar zur Anklage, aber die Verurteilungen fallen dann sehr milde aus und erfolgen auch wegen weniger schwerer Delikte, beispielsweise wegen Schwarzarbeit. Duc Nguyen von der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg kritisierte vor gut einem Jahr gegenüber Medien die Öffentlichkeitsarbeit der Bundespolizei zu diesem Thema: Dadurch werde seiner Meinung nach ein Medienbild über Vietnamesen geschaffen, das Teile der Community in Verruf bringe.
Seit mehr als einer Generation sehen viele Menschen aus Zentralvietnam ihre Zukunft in Europa. Sie machen sich auf den Weg in der Hoffnung, wie schon viele Emigrant*innen vor ihnen Geld in das Herkunftsland zu schicken und dadurch ihren Familien ein besseres Leben zu finanzieren. Zentralvietnam ist eine besonders arme Region Vietnams. Weil es kaum legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa gibt, kommen die Auswander*innen ohne Einreiseerlaubnis und nehmen zum Teil lebensgefährliche Grenzübertritte in Kauf.
Papierlose Selbstbestimmung
Einmal im Zielland angekommen, finden sich viele in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen wieder – Schulden von der Reise werden ihnen vom Lohn abgezogen, bis fast nichts mehr übrigbleibt. Manche Frauen kommen zu einem legalen Aufenthaltsstatus, indem sie Kinder bekommen und deutsche Männer als Väter angeben. Erkennt der Vater das Kind an, erhält es einen deutschen Pass und die Mutter hat über das Kind Anspruch auf einen sicheren Aufenthaltstitel. Sind diejenigen, die Migrant*innen in informelle Arbeitsplätze vermitteln oder für den Erhalt eines legalen Status vorgeben, Kindsvater zu sein, Menschenhändler?
Das ist juristisch umstritten. Der Rechtsanwalt Federico Traine beobachtet beispielsweise, dass die meisten Richter*innen Verfahren einstellen, in denen es um die Vermittlung »falscher« Vaterschaften durch dritte Personen geht. »Eine Entscheidung oberer Gerichte gibt es dazu noch nicht«, so Traine zu »nd«. Einerseits dürfen Familien unabhängig der biologischen Elternschaft entscheiden, wer der Vater ist. Andererseits sind Notar*innen rechtlich verpflichtet, Vaterschaftsanerkennungen, bei denen sie Missbrauch vermuten, bei der Ausländerbehörde zu melden.
Kriminalisierung anstatt Schutz
Anfang des Jahres endete ein Prozess vor dem Berliner Landgericht mit milden Urteilen: Zwei Frauen wurden nach Verbüßung der Untersuchungshaft freigelassen, ein Mann musste eine geringe Geldstrafe zahlen. Die Staatsanwaltschaft hatte die drei wegen Menschenhandels angeklagt. Sie hatten ein Bordell betrieben, in dem illegalisierte Vietnamesinnen arbeiteten. Vor Gericht hatten die meisten dieser Sexarbeiterinnen ausgesagt, zwar nicht gern, aber doch freiwillig als Prostituierte gearbeitet zu haben. Ende 2020 endete ebenfalls vor dem Berliner Landgericht ein sogenannter Schleuserprozess mit einer Bewährungsstrafe für den Hauptangeklagten. Die Angeklagten waren eineinhalb Jahre durch die Bundespolizei observiert worden.
Gravierend ist besonders das Missverhältnis zwischen dem Ermittlungsaufwand und dem Schutz Betroffener. Opfer von Menschenhandel haben einen Anspruch auf staatlichen Schutz. In Berlin gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik 2019 ein und 2020 16 vietnamesische Opfer von Menschenhandel. Doch nach Angaben der Berliner Senatsverwaltung für Inneres hat keine Vietnamesin in diesem Zeitraum eine Aufenthaltserlaubnis basierend auf dem Schutzanspruch Betroffener bekommen. Ohne rechtlich abgesicherten Status bleiben sie abhängig von ausbeuterischen Verhältnissen.
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