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- Die Linke in Lateinamerika
Linksruck in Kolumbien
Gustavo Petro und Francia Márquez stehen für eine neue, ökosoziale Linke in Lateinamerika. Gerhard Dilger über die neue Regierung in Kolumbien.
Zum ersten Mal in seiner Geschichte bekommt Kolumbien einen linken Präsidenten – bereits das ist eine Sensation. Noch bemerkenswerter ist, was sich Gustavo Petro und die künftige Vizepräsidentin Francia Márquez vorgenommen haben: Eine Regierung »für das Leben«, also eine Weichenstellung hin zu sozialer Gerechtigkeit und weg vom fossilen Wachstumsmodell und der jahrzehntelangen Gewalt durch Staat, Drogenbanden, Paramilitärs sowie verbliebener Guerillagruppen.
Schon ihr Wahlsieg wurde nur durch Teamwork möglich. Hier der erfahrene Politiker, der nach seiner Phase als junger Guerillero bald linker Abgeordneter, Bürgermeister von Bogotá und Senator wurde – dort die charismatische Schwarze Aktivistin aus der Pazifikregion, die sich als Goldschürferin und Hausangestellte zur Anwältin hocharbeitete. 25 Jahre lang kämpfte sie in sozialen Bewegungen, für die Teilhabe der Afrokolumbianer*innen, gegen Patriarchat, Rassismus und Umweltzerstörung. Demnächst soll sie ein Superministerium für Gleichheit anführen.
Gerhard Dilger war Südamerikakorrespondent und Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo und Buenos Aires.
Chile, wo sich mit dem 36-jährigen Präsidenten Gabriel Boric und seinen Mitstreiter*innen ein spektakulärer Generationswechsel vollzieht, war das erste weltweit sichtbare Beispiel dieser neuen lateinamerikanischen Linken. Ähnlich wie in Chile gab es auch in Kolumbien monatelange, mit blutiger Repression unterdrückte Straßenproteste. Jugendliche und Feministinnen, Indigene und Umweltaktivist*innen bereiteten den Boden auch für den Wahlsieg von Petro und Márquez. Wie Boric und Co. konnten sie einen Teil der vom System längst abgehängten Menschen mobilisieren, die Wahlbeteiligung erreichte den Rekordwert von 58 Prozent.
Und auch sie stehen einer scheinbar übermächtigen Rechten in Politik, Militär und Wirtschaft gegenüber. Er wolle »den Kapitalismus entwickeln«, betonte der Pragmatiker Petro in seiner sehenswerten Siegesrede. Zum Regieren sind Kompromisse nötig, neben den Grünen werden auch Teile der Liberalen mitregieren. Enttäuschungen sind programmiert.
Im Programm des Duos Petro/Márquez, und das ist ein Novum, nimmt die Ökologie einen zentralen Stellenwert ein. Das artenreiche Kolumbien, dessen Südosten in die Amazonasregion hereinreicht, soll den Kampf gegen den Klimawandel anführen. Dazu strebt Gustavo Petro eine diplomatische Offensive und den allmählichen Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft an. Eine Herkulesaufgabe, da Öl, Gas und Kohle gut die Hälfte aller kolumbianischen Exporte ausmachen. Schon vor dem Wahlsieg kamen Vorbehalte aus Brasilien: In der »Time« tat der frühere und wohl zukünftige Präsident Lula die Pläne von Petros als »unrealistisch« ab.
Sollten in Kolumbien konkrete Schritte in diese Richtung folgen, etwa der angekündigte Stopp neuer Förderprojekte: Für die lateinamerikanische Linke, die ihre Popularität in den Nullerjahren maßgeblich den hohen Rohstoffpreisen zu verdanken hat, wäre dies tatsächlich eine neue Qualität. Für Rafael Correa in Ecuador oder auch den Bolivianer Evo Morales war das indigen inspirierte »Buen Vivir«, ein kollektives Leben in Harmonie mit der Natur, kaum mehr als ein Lippenbekenntnis. Ein Abrücken von Öl- und Gasförderung oder von dem exportorientierten Agrobusiness war für sie unvorstellbar.
Gustavo Petro wirbt seit Jahren für eine ökologische Wende. Lateinamerika ist mit Abstand die gefährlichste Region für Umweltkämpfer*innen, die Wirtschaftsinteressen entgegentreten. 2020 wurden dort 227 von ihnen ermordet. Kolumbien führt diese traurige Statistik mit 65 Toten an. Auch die für ihr Engagement mehrfach ausgezeichnete Francia Márquez wird bedroht und hat schon ein Attentat überlebt. Wenn sie die Vision des »Vivir sabroso« propagiert, was man annähernd mit »köstlichem Leben« übersetzen könnte, nimmt man ihr das ab. Sie versteht darunter ein Leben in Frieden und Würde, wo die Menschenrechte garantiert sind – die kolumbianische Variante des »Buen Vivir«.
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