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Der Mitmach-Landrat
Augustusburgs Rathauschef Dirk Neubauer will mit rot-rot-grüner Hilfe eine CDU-Bastion in Sachsen erobern
Wer zu Dirk Neubauer mit einer Beschwerde kommt, muss damit rechnen, mit Arbeit nach Hause zu gehen. Neubauer ist Bürgermeister von Augustusburg, einer 4500-Einwohner-Stadt mit imposantem Jagdschloss unweit von Chemnitz. Im Rathaus sitzt er regelmäßig Menschen gegenüber, die das Gespräch mit dem Satz eröffnen: »Die Stadt muss mal …« Neubauer unterbricht dann: »Die Stadt bist du, ich bin nur die Stadtverwaltung.« Man könne das Problem des Bürgers gern lösen – mit diesem gemeinsam: »Viele werden dann sehr nachdenklich.«
Neubauer erzählt eine Episode auf dem Markt von Roßwein, einem Landstädtchen 50 Kilometer von Augustusburg entfernt. Drei Dutzend Menschen sitzen unter Bäumen und bunten Lämpchen zwischen dem stattlichen Rathaus, dem geschlossenen Bäcker und einem Bestattungsinstitut. Neubauer liest aus einem Buch, das »Rettet die Demokratie!« heißt und das er »in zehn Tagen mit viel Wut im Bauch« geschrieben habe, wie er anmerkt. Im Kapitel, das er vorträgt, geht es darum, wie die Initiative von Bürgern und Stadträten »im Dschungel der Vorschriften« abgewürgt werde, wie ein erstarrtes System von Politik und Verwaltung für Verdruss sorge und Protest erzeuge: »Die Beteiligung der Bürger beschränkt sich im Alltag darauf, gegen etwas Verfügtes in Widerspruch gehen zu können.«
Chef in einem »Zwangsgebilde«
Die Veranstaltung an einem lauen Sommerabend ist kein Theorieseminar, sondern Wahlkampf. Neubauer will Bürger auch im alltäglichen Leben wieder zum Mitmachen animieren und in Amtsstuben für frischen Wind sorgen. In Augustusburg hat er das neun Jahre lang praktiziert, zum Beispiel mit der Idee von Bürgerbudgets, bei der Menschen unkompliziert Geld erhalten, um in Eigeninitiative ihre Ideen umzusetzen: »Klappt toll«, sagt er. Jetzt strebt er eine Ebene höher: Er will Landrat des Landkreises Mittelsachsen werden. Gelingt das Vorhaben, würde er nicht mehr einen kleinen Luftkurort regieren, sondern eine Verwaltung mit 1500 Mitarbeitern führen, die für eine Region mit 300 000 Einwohnern und 2200 Quadratkilometer Fläche sorgt und für alle Lebensbereiche von Abfall bis Zuwanderung zuständig ist. Der Landkreis reicht vom Erzgebirge bis fast nach Leipzig und ist 2008 durch eine Gebietsreform entstanden, die Neubauer für einen grandiosen Fehler hält; entstanden sei ein »Zwangsgebilde«, in dem sich niemand zu Hause fühle. »Wenn sie eine Stunde fahren müssen für einen Führerschein«, sagt er, »dann entheimatet das die Menschen.«
Warum strebt der 51-Jährige, der vor seinem Rathausjob schon Journalist war, später eine Beratungsfirma für Medien gründete und schließlich eine Kafferösterei, dann in den Job? Zum einen hofft er, ein paar Augustusburger Erfahrungen in die Breite tragen zu können. Bürgerräte könnten helfen, die verfahrene Diskussion um erneuerbare Energien und Windräder zu entkrampfen. Regionalbudgets für die im Großgebilde Mittelsachsen aufgegangenen drei früheren Landkreise Mittweida, Döbeln und Freiberg sollen Heimatgefühle wieder stärken. Der Kreistag soll nicht nur in der Kreisstadt, sondern auch an anderen Orten tagen, um mehr Nähe zu den Bürgern zu zeigen.
Interessenvertreter für Dörfer und Kleinstädte
All das klingt schon nach einer kleinen Revolution. Tatsächlich umstürzlerisch aber sind Neubauers Pläne, wenn es um das Verhältnis des Landkreises zur Landesregierung geht. Eigentlich sind die Kreise, von denen es in Sachsen zehn gibt und die zwei Drittel der Einwohner vertreten, politische Schwergewichte. Eigentlich, sagt Neubauer, müssten sie also in Dresden ständig für Unruhe sorgen, weil sich »die Interessen des ländlichen Raums und die am Kabinettstisch sehr unterscheiden«. Viele politische Entscheidungen in Sachsen setzten auf starke Großstädte als »Leuchttürme«, deren Strahlkraft auch Dörfer und Kleinstädte erhellen soll. Dort aber merkt man davon wenig und drängt auf eigene Ideen für wirtschaftliche Belebung, Nahverkehr, Landärzte und Schulen: »Die Landräte müssen dafür sorgen, dass sich in Dresden die Einstellung ändern.«
Dass das in 30 Jahren nie wirklich geschah, ist der politischen Grundkonstellation in Sachsen geschuldet: Die CDU führte die Regierung, und die CDU stellte bis auf sehr wenige Ausnahmen auch alle Landräte. Die herrschten in ihren »Riesenreichen« zwar wie kleine Fürsten: »Der Landvogt kommt; die Kinder stehen Spalier und singen«, beschreibt Neubauer spöttisch ihren Habitus. Gegenüber der Regierung aber traten sie selten aufmüpfig oder auch nur fordernd auf – weil man quasi zur gleichen Familie gehörte.
Das müsse sich ändern, sagt Neubauer, der parteilos ist. Eine Zeitlang hat er es in der SPD versucht, aber der Mann, der Kritikern zufolge manchmal zu sehr mit dem Kopf durch die Wand will, und die Partei mit ihren Strukturen wurden miteinander nicht glücklich. Jetzt ist er ohne Parteibuch, wird im Wahlkampf aber von Linkspartei, Grünen und SPD unterstützt. Würde er den Posten tatsächlich erobern, will er in Dresden für »Dissonanzen« sorgen. »Da fährt nicht mehr der Matthias zum Michael«, sagt er in Anspielung auf den scheidenden mittelsächsischen Landrat Damm und Regierungschef Kretschmer, »sondern da kommt künftig der Landrat zum Ministerpräsident«. Das sei »etwas anderes«.
Derzeit sieht es ganz so aus, als könne man sich in Dresden schon einmal auf unruhigere Zeiten vorbereiten. In der ersten Runde der Landratswahlen Mitte Juni lag in Mittelsachsen, anders als in allen anderen Kreisen, nicht der CDU-Bewerber vorn; Sven Liebhauser, Oberbürgermeister von Döbeln, erhielt nur 30 Prozent. Noch gut ein Prozent weniger erhielt AfD-Bewerber Rolf Weigand, dem viele Beobachter vorab die sachsenweit größten Chancen zugebilligt hatten, erstmals einen kommunalen Spitzenposten für die Rechtspartei zu erobern. Die Nase vorn hatte, auch zur nicht geringen Überraschung seiner Unterstützer, der parteilose Neubauer – und zwar mit 41,3 Prozent recht deutlich.
Manche denken, er sei schon gewählt
Noch, das wissen sie auch in Neubauers Lager, ist nichts gewonnen. Zwar reicht in der zweiten Runde am Sonntag die einfache Mehrheit. Völlig offen ist aber, wie die Wahlbeteiligung ausfällt und wie die politischen Lager ihre Anhänger mobilisieren können. »Viele denken, Dirk ist schon gewählt«, sagt Marika Tändler-Walenta, die Kreischefin der Linken, die trotzdem elektrisiert ist von der Aussicht, dass nach 30 Jahren in der Region erstmals ein Landrat ohne CDU-Parteibuch amtieren könnte: »Das wäre ein historischer Moment.«
Wenn er eintritt, werden künftig auch viele Besucher der Kreisverwaltung mit Arbeit nach Hause gehen. Der Mitmach-Landrat wird ihnen klar machen, dass das Land und die Demokratie nur funktionieren, wenn sich die Bürger daran beteiligen. »Wo man die Möglichkeit hat zu gestalten«, sagt er, »dort entsteht auch Bindung und Heimat.« Und Unmut, Verdruss und Protest haben es schwerer.
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