Toxisches Musterländle

In Südkorea verlief die Corona-Pandemie relativ glimpflich, doch Not und Armut sind größer geworden

  • Felix Lill, Seoul
  • Lesedauer: 9 Min.
Ruhe vor dem Sturm in Seoul? Viele Menschen sind wegen der sozialen Ungleichheit unzufrieden.
Ruhe vor dem Sturm in Seoul? Viele Menschen sind wegen der sozialen Ungleichheit unzufrieden.

»Heute ist es mal richtig ruhig hier«, sagt Kim So-yeon und deutet zur vollgesteckten Pinnwand im Eingangsbereich: »Sie sind jetzt alle draußen und protestieren.« Rund 20 federführende Arbeiterinnen und Arbeiter übernachteten die letzten Tage hier, in der Quasi-Zentrale des nationalen Klassenkampfs, um die nächste große Demonstration zu organisieren. »Bei einem Subunternehmen des Konzerns Daewoo Shipbuilding wurden einfach so die Löhne um 30 Prozent gekürzt, obwohl deren Geschäft gut läuft. Das können wir uns nicht gefallen lassen! Sonst geht es nur so weiter!«

Kim So-yeon, eine Frau mit schulterlangen Haaren, einer bequemen Jeans und rauen Händen, lächelt bitter, damit sie nicht brüllen muss. »In diesem Land muss man sich alles hart erkämpfen, geschenkt kriegt man hier gar nichts«, sagt die 52-Jährige und geht zur Kaffeemaschine, um sich einen Kaffee zu kochen. Es sind harte Tage. Als Leiterin des Hauses »Cool Jam« im Zentrum von Seoul ist Kim So-yeon an praktisch jedem Arbeiterprotest Südkoreas mitbeteiligt, auch wenn sie mittlerweile bei keinem selbst dabei ist. »Eine muss hier die Stellung halten«, sagt sie.

Dieses fünfstöckige Gebäude mit 50 Schlafplätzen und mehreren Büros ist ein weltweit vielleicht einmaliges Konstrukt. Durch Spenden aus der Zivilgesellschaft errichtet, soll es der arbeitenden Klasse im ganzen Land ermöglichen, sich in der Hauptstadt Seoul zu versammeln, wann immer es nötig ist. Angestellte bei Zeitarbeitsfirmen kriegen hier Gratiskaffee, Schichtarbeiter können hier schlafen, wenn es freie Plätze gibt. »Wir sind für alle da, die Hilfe brauchen«, sagt Kim So-yeon. »Davon gibt es immer mehr, vor allem seit der Pandemie.«

Wobei dieser letzte Satz überraschen mag. Ist Südkorea nicht zum Neidobjekt der Welt geworden, seit Covid-19 um den Globus wütet? Doch, denn kaum ein Land hat die Pandemie mit weniger gesundheitlichen Schäden überstanden. Nach einem rasanten Ausbruch Anfang 2020 gelang es der Regierung, durch radikale Desinfektionskampagnen, Massentests, ein effektives Trackingsystem und strenge Quarantäneregeln die Infektions- und Todeszahlen pro Kopf geringer zu halten als in den meisten anderen Industriestaaten.

So nennen Medien und Politiker aus den reichen Teilen der Welt seit zweieinhalb Jahren gern Südkorea als Vorbild: Dieses ostasiatische Land war es, das schnell Testkits und medizinische Masken im großen Stil herstellen und bald auch exportieren konnte. Nach anfänglicher Verspätung bei der Impfkampagne überholte Südkorea auch hier die westlichen Nationen. Weil Lockdowns deshalb kaum nötig wurden, blieb zudem der ökonomische Schaden insgesamt eher gering. Im Gegensatz zu anderen großen Volkswirtschaften schrumpfte die koreanische nur geringfügig.

Aber bei genauerem Hinsehen sagen solche Makrozahlen wenig darüber aus, wie es die Menschen durch die Pandemie geschafft haben. »Mit Corona ist die Gesellschaft nur noch ungleicher geworden«, sagt Kim So-yeon. »Die Regierung hat Demonstrationen verboten. Aber das kannst du nur machen, wenn du dafür sorgst, dass es keinen großen Grund zum Demonstrieren gibt.« Der Fakt, dass ihr Haus auch inmitten pandemiebedingter Kontaktbeschränkungen regelmäßig gut besucht war, belege das Gegenteil.

Schon im April 2020 ergab eine Umfrage, dass 42 Prozent der Menschen im Land schmerzliche Einkommensverluste hatten hinnehmen müssen. Um damit umzugehen, kündigten davon 17 Prozent ihr Sparkonto, 13 Prozent nahmen einen Kredit auf und ein ebenso hoher Anteil suchte einen weiteren Job. In Südkorea, das seit Jahren zu den Industriestaaten mit der größten Einkommensungleichheit gehört und wo schon vor der Pandemie jede sechste Person in relativer Armut lebte, waren ökonomische Auswirkungen der Pandemie unmittelbar zu sehen.

Zwar erholte sich das diversifizierte und globalisierte Geschäft der für das Land wichtigen Großkonzerne um Samsung, LG oder Hyundai bald nach den ersten Coronaeinstürzen wieder. So blinken im Stadtzentrum von Seoul nach wie vor die Leuchtreklamen der Konglomerate. Unverändert bietet Samsung auch Gratiseintritt ins Leeum, ein Museum mit Kunstwerken von Salvador Dalí, Gerhard Richter sowie jahrhundertealtem koreanischen Porzellan. Und die großen Kaffeehausketten verkaufen Café Mocha oder Chai Latte weiter für umgerechnet gut fünf Euro.

Aber ebenso wenig zu übersehen sind die mittlerweile vielen leer stehenden Ladenflächen in eigentlich angesagten Seouler Vierteln wie Myeongdong. Denn vielmehr als die Konzerne gingen kleinere Unternehmen zugrunde. Der Anteil nicht-regulärer Beschäftigung, in der Menschen oft keine Sozialleistungen erhalten und deutlich weniger verdienen, ist im letzten Jahr auf 42 Prozent geklettert. Damit gehört Südkorea zu den zweifelhaften Spitzenreitern unter den Industrienationen.

Und der koreanische Staat hat wenig dagegen getan. Kaum ein reiches Land gab ab 2020 so wenig Geld für Coronahilfen aus wie Südkorea. Beinahe erwartbare Schlagzeilen folgten dann im Juni dieses Jahres: Der »Economic Misery Index«, der die Inflationsrate mit der Arbeitslosenrate kombiniert und so das Ausmaß der aktuellen ökonomischen Misere privater Haushalte misst, hat den höchsten Wert seit 21 Jahren erreicht.

»Es ist ja nicht so, dass wir die nächste Katastrophe nicht erwartet hätten«, sagt Kim So-yeon und führt durch das Gebäude. »Cool Jam«, was Koreanisch ausgesprochen »süßer Schlaf« bedeutet, wurde schon vor fünf Jahren von Freiwilligen erbaut. »Der Staat unterstützt die Menschen nicht, also machen wir es selbst«, lacht die Frau, die zuvor einen Zeitarbeitsjob als Qualitätskontrolleurin bei einem Elektrokonzern hatte und gegen Widerstand eine innerbetriebliche Gewerkschaft gründete.

Im Treppenhaus hängen Bilder früherer Demokratie- und Arbeiterikonen, von denen viele hinter Gitter kamen. Immer wieder kommt es in Südkorea vor, dass Organisatoren von Demonstrationen trotz Versammlungsfreiheit ins Gefängnis müssen, weil zu den Protesten mehr Teilnehmer kommen als erwartet und nicht angemeldete Straßen blockiert werden. Auch deshalb bewertet der internationale Gewerkschaftsbund Ituc die Lage in Korea mit »keine Garantie von Rechten« – die schlechteste von fünf Kategorien. »Ich musste auch schon ins Gefängnis«, sagt Kim fast mit Stolz.

»Mein Genick und mein Bein verletzt / sitze ich einer koreanischen Zelle zur Einzelhaft / außerstande irgendwen zu treffen / und doch glaube ich nicht allein zu sein.« Diese Zeilen des in Korea berühmten Dichters Song Kyung-dong, der das Arbeiterhaus »Cool Jam« mitverantwortet, werden im Land gelegentlich zitiert. Sie entstammen dem Gedicht »99 % versus 1 %« und wurden Jahre vor der Pandemie geschrieben. Aber ihr Schöpfer sagt heute: »Sie sind so aktuell wie nie.«

Am frühen Abend steht Song Kyung-dong auf einer Dachterrasse in Seoul, zieht an seiner Zigarette und blickt über die Wolkenkratzer. »Es bräuchte viel mehr größere Aufstände«, flüstert der Mann, der im Jahr 2014 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, nachdem er einen Arbeiterprotest mit 200 Bussen organisiert hatte, die dann unter anderem den Verkehr aufhielten. Tatsächlich sind Arbeiterproteste zwar häufig, aber auch häufig wirkungslos. Nur rund 14 Prozent der Erwerbsbevölkerung ist Teil einer Gewerkschaft. »Wir müssen solidarisch sein«, fordert der Dichter.

Als Song Kyung-dong im vorigen Jahr einen Preis vom damaligen Präsidenten Moon Jae-in entgegennehmen sollte, lehnte er diesen ab. Moon war im Jahr 2017 nicht zuletzt mithilfe der Arbeiterbewegung an die Macht gekommen, hatte einen deutlich höheren Mindestlohn und eine entschiedene Bekämpfung prekärer Arbeitsverhältnisse versprochen. Doch am Ende geschah wenig. Stattdessen stiegen in den Ballungszentren die Immobilienpreise, in den Privathaushalten das Verschuldungsniveau und im ganzen Land die Ungeduld.

Erwartet Korea jetzt, mit der Pandemie im Rücken, eine Zeit des großen Protests, wie sie das Land zuletzt in den 1980er Jahren erlebte, als es um das Ende einer Militärdiktatur und die Errichtung der Demokratie ging? Fragt man Kim Nury, erhält man eine klare Antwort. An einem Vormittag bittet der Professor für Deutsche Literatur und bekannte Intellektuelle in sein Büro der Chung-Ang Universität. Vor einem Bücherregal voller Werke von Politologen und Kulturkritikern sagt er gleich am Anfang des Gesprächs: »Dieses Land ist durch einen Vulgärkapitalismus vergiftet.«

Anfang des Jahres habe Kim, ein Mann mit Lesebrille und elegantem Auftritt, über den Fernsehsender KBS einen Live-Vortrag zu einem aktuellen Thema gehalten. »Da habe ich ins Publikum die Frage gestellt: ›Warum gibt es in Korea trotz dieser unerhörten Ungleichheit keine Revolution?‹« Einige antworteten, die Armut sei ja noch nicht so extrem, dass sie in den Tod führe. Kim hebt den Zeigefinger. »Aber ich glaube: Die Meritokratie, in der wir leben, ist zu einer Ideologie geworden. Wenn man selbst schlecht dran ist, denkt man, es war die eigene Schuld.«

So glaubt Kim Nury nicht daran, dass sich an den Verhältnissen im Land allzu schnell etwas ändert. Das zeigt sich auch an den jüngsten politischen Ereignissen. Als im März ein neuer Präsident gewählt wurde, straften die Wählerinnen und Wähler den scheidenden Moon Jae-in, der als pandemiepolitisch erfolgreich und verteilungspolitisch mutlos gilt, auf herbe Weise ab. Moons Demokratische Partei verlor die Wiederwahl, obwohl der Kandidat der gegnerischen Partei auch nicht beliebt war.

Zum Sieger wurde der konservative Populist Yoon Suk-yeol, der kaum für soziale Gerechtigkeit warb, dafür aber mit der Abschaffung des Ministeriums für Frauen und Familien sowie der Entsorgung der Kapitalertragssteuer. Aufgrund seines Wahlkampfs voller Beschimpfungen und Drohungen wurde Yoon auch als koreanischer Trump bezeichnet. Beobachter sehen im Wahlsieg Yoons zweierlei: Die Attraktivität des von ihm oft betonten Ideals der Eigenverantwortung sowie die Enttäuschung gegenüber der Vorgängerregierung.

Im Haus des süßen Schlafs hat man sich damit abgefunden. »Natürlich wird der neue Präsident für die ärmeren Menschen nichts tun«, sagt Kim So-yeon. »Aber das hat sein Vorgänger ja auch nicht.« Am Abend räumt sie im Keller herum und zieht an einem Vorhang, hinter dem sich plötzlich eine kleine zahnmedizinische Praxis zeigt. »Das haben uns unsere Spender ermöglicht«, sagt Kim So-yeon und wirkt zum ersten Mal so, als würde sie ohne Zynismus lächeln. »Jede Woche kommt ein Zahnarzt vorbei und behandelt gratis. Dann ist die Hütte hier immer voll.«

Auf der anderen Seite des ausgebauten Kellerraums ist ein Zeitstrahl an die Wand geklebt, der die letzten 20 Jahre abbildet. »Da haben wir alle Arbeiterproteste dokumentiert, die seitdem stattgefunden haben.« Besonders viele Demonstrationen sind in den Jahren der Pandemie vermerkt. Ob da nicht das Demonstrieren verboten war? Ja, klar, nickt Kim So-yeon und hat ihr zynisches Lächeln zurück.

»Aber ohne wirklichen arbeitsrechtlichen Schutz haben so viele Leute ihren Job verloren, wurden herabgestuft oder mussten für weniger Lohn arbeiten. Kann man sich das gefallen lassen?« Man habe mit Maske demonstriert, betont Kim So-yeon, und die Abstandsregeln eingehalten. Mehrere Organisatoren mussten trotzdem ins Gefängnis.

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