- Kultur
- Stepan Bandera
Der mörderische Märtyrer
Von den Untaten des Stepan Bandera oder wie ein Botschafter seiner Heimat einen Bärendienst erweist
Wer hätte das gedacht: Der ukrainische Botschafter in Berlin leistet Russlands Präsidenten Wladimir Putin Schützenhilfe, scheint dessen Kriegsvorwand der »Entnazifizierung« der Ukraine zu unterfüttern. Während der Westen alles zu tun verspricht, um den heroischen Kampf der Ukraine für Freiheit und Demokratie zu unterstützen und die EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen die Beförderung der Ukraine zum Beitrittskandidaten (irgendwann) als »sehr guten Tag für Europa« qualifiziert, sorgt Kiews Botschafter in Berlin für Ärger. Andrij Melnyk lobte vergangene Woche in deutschen Medien zum wiederholten Male den ukrainischen Nationalisten und überzeugten Faschisten Stepan Bandera in höchsten Tönen und erklärte: »Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen.« Nur hielt diesmal der TV-Moderator dagegen, und des Botschafters Botschaft ging viral, wie es heute heißt.
Warschau nannte Melnyks Äußerungen »absolut inakzeptabel«, will keine Entschuldigung aus dessen Mund akzeptieren, sondern erwartet eine klare, offizielle Position aus der Ukraine. Das Kiewer Außenministerium distanzierte sich stante pede von Melnyks neuerlichem Fauxpas und betonte, die Beziehungen zu Polen befänden sich auf einem »Höhepunkt«, weil das Nachbarland in »beispielloser Weise« die Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland unterstütze. Der Botschafter habe nur seine persönliche Meinung vertreten. In der israelischen Botschaft in Deutschland ist man entsetzt: »Die Aussagen des ukrainischen Botschafters sind eine Verzerrung der historischen Tatsachen, eine Verharmlosung des Holocausts und eine Beleidigung derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden.«
Es verwundert nicht, dass die seit dem Zerfall der UdSSR erstarkten nationalistischen Bewegungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Identifikationsfiguren suchten – und sie fanden. Zu nationalen »Erweckungen« war es im russischen Zarenreich, das in der Geschichtsschreibung mit einem »Vielvölkergefängnis« verglichen wird, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gekommen. Doch auch nach der Februar- und dann Oktoberrevolution 1917 sahen sie sich mit Machthabern konfrontiert, die ihre Interessen nicht teilten. Vor allem rieben sich die bürgerlich-nationalistischen Bewegungen an der radikalen antikapitalistischen und antifeudalen Umwälzung der Bolschewki, die zugleich jedoch das Selbstbestimmungsrecht der Nationen verkündet hatten. Sozialer Klassenkampf und nationales Unabhängigkeitsstreben vermengten sich. Nach der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg folgte für die Ukraine eine kurze Phase der Selbstständigkeit, bis auch die Ukrainer in den Strudel von Bürgerkrieg und westlicher Intervention gerieten. Bekanntlich siegten die Bolschewiki. Im Gefolge des Polnisch-Sowjetischen Krieges 1919/21 kam es zur Spaltung des Landes. Die Westukraine, vor 1914 Teil der österreichischen k.u.k.-Monarchie, fiel an Polen. Die Regierenden in Warschau betrachteten fortan die ukrainische Frage als Teil ihres antikommunistischen Kampfes gegen die Sowjetunion; ihre Sympathie für die neuen, ukrainischstämmigen Bürger war mäßig.
In diesem Milieu aufgewachsen und politisiert, sollte Stepan Bandera zu einem der führenden ukrainischen Nationalisten avancieren. Der am ersten Januartag des Jahres 1909 in Galizien geborene Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters schloss sich nach dem Studium an einem Polytechnikum in Lemberg (heute Lwiw) der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an und profilierte sich alsbald als ein militanter Kämpfer für eine freie Ukraine. Damit meinte er: »frei« nicht nur von Polen, sondern auch von Russen und Juden. Er verfolgte unzweifelhaft einen aggressiven Nationalismus der Ausgrenzung anderer Ethnien und der Überhöhung des eigenen Volkes.
1934 war Bandera in ein Attentat auf den polnischen Innenminister Bronislaw Pieracki verwickelt. Er wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und dann zu lebenslanger Haft begnadigt. Im Zuge der Zerschlagung des polnischen Staates nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht im September 1939 kam er frei. In Nazideutschland fand er ein offenes Ohr für seine nationalistischen Visionen. Gegen Juden, Polen und vor allem Kommunisten und die Sowjetunion war man sich einig.
Die »Abwehr«, der militärische Geheimdienst der Deutschen, sah in der nach der Sowjetisierung der Ukraine im und aus dem Exil heraus wirkenden Untergrundorganisation OUN ein nützliches Instrument für den bevorstehenden Krieg gegen die Sowjetunion. Bandera und seine Gefolgsleute sorgten dafür, dass den Deutschen konkrete Ortskenntnisse für geplante Terroreinsätze nach dem bereits anvisierten Angriff vermittelt wurden, um einen schnellen Vormarsch der Aggressoren zu begünstigen. Das berüchtigte Bataillon »Nachtigall« – zu deren Befehlshabern 1941 ein gewisser Theodor Oberländer gehörte, später Minister unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer – rekrutierte sich aus den Reihen der OUN. Reguläre wie irreguläre Einheiten der Nationalisten verübten gemeinsam mit deutschen Truppen schon in den ersten Kriegstagen Pogrome an der jüdischen Bevölkerung in der Ukraine, führten gegen Russen und Polen gerichtete »Säuberungen« durch, denen zum Beispiel in Lemberg/Lviv Tausende Juden zum Opfer fielen. Die rassistisch motivierten Morde hatten auch immer eine antisowjetische Komponente, und viele Sowjetfunktionäre waren jüdischer Herkunft.
Bandera stieg zum Helden der ukrainischen Nationalisten auf. Seiner Golorifizierung nach dem Krieg sollte seine Verhaftung durch die Deutschen am 5. Juli 1941 zugute kommen. Bandera wurde ins KZ Sachsenhausen gebracht, wo er als Ehrenhäftling in einem Sondertrakt festgehalten wurde, zusammen mit anderen OUN-Aktivisten. Eine privilegierte Gefangenschaft, die seine politische Arbeit nur partiell beschränkte.
Was war in den Augen der Deutschen Banderas Vergehen? Er hatte eine Woche nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, am 30. Juni 1941, einen unabhängigen ukrainischen Staat proklamieren lassen, was so gar nicht in das Kalkül der braunen Machthaber in Berlin passte. Ukrainische Nationalisten als Helfershelfer bei Mord und Totschlag, Plünderungen und Unterdrückung waren ihnen recht, aber sie sollten den Nazis nicht mit eigenen staatlichen Vorstellungen in die Quere kommen.
Bandera blieb trotzdem geistiger und politischer Kopf der OUN und ihres militärischen Arms, der Ukrainischen Befreiungsarmee, die alsbald auch die Rekrutierungsbasis für die SS-Division »Galizien« abgab. So trug er weiterhin Mitverantwortung für deren Massaker an Juden, Polen, sowjetischen Soldaten und Funktionären, vor allem russischstämmigen. Dies lässt natürlich den heute in der Ukraine gepflegten Kult um Bandera in Warschau wie Jerusalem suspekt erscheinen und auf Ablehnung stoßen.
Im September 1944 wurde Bandera aus Sachsenhausen entlassen. Für den »Endkampf« gegen den sowjetischen Vormarsch auf Berlin benötigten ihn die Nazis wieder. Er erfüllte deren Wünsche angesichts der absehbaren militärischen Niederlage allerdings nur noch halbherzig. Vielmehr orientierte er sich nun gen Westen aus, diente sich dem US-Geheimdienst CIC an, dem Vorgänger der CIA. In der sogenannten Operation Anyface (Jedermannsgesicht) sorgten seine neuen Verbündeten dafür, dass er und seine Gesinnungsgenossen dem Zugriff sowjetischer Ermittlungsbehörden und somit ihrer gerechten Strafe entzogen wurden. Sie unterstützen seine in der von der Roten Armee befreiten Ukraine noch Jahre aktiven Gefolgsleute, die mit Überresten der SS-Division »Galizien« und versprengten Wehrmachtsoldaten Terrorakte verübten – ähnlich wie die »Waldbrüder« im Baltikum oder untergetauchte Kämpfer der bürgerlichen »Heimatarmee« in Polen. Deren mörderisches Treiben kostete noch viele Opfer bis in die 1950er Jahre hinein. Bandera selbst, der inzwischen unter falschem Namen in München untergetaucht war, stand weit oben in der Liste der in der Sowjetunion gesuchten Kriegsverbrecher.
Dem sowjetischen Geheimdienst gelang es schließlich, Bandera ausfindig zu machen. Am 15. Oktober 1959 wurde er von einem KGB-Agenten in seinem Wohnhaus in der Münchener Kreittmayrstraße 7 mit einer Giftwaffe getötet. Überraschenderweise flüchtete der Attentäter 1961, kurz vor dem Bau der Berliner Mauer, in den Westen, wo er – mit dem Bonus als Tatgehilfe ohne eigenen Willen (Anreiz für mögliche weitere Überläufer) – zu einigen Jahren Haft verurteilt wurde.
Bandera, der in der bayerischen Hauptstadt ein Ehrengrab erhielt, macht posthum eine zweite Karriere: als Opfer zweier Terrorregieme, der Nazis und der »Kommunisten«. Bereits 1989, als die Sowjetunion zunehmend in Agonie fiel, versuchten ukrainische Nationalisten Bandera ein erstes Denkmal aufzustellen, was jedoch noch unterbunden wurde. Mit der Deklaration der Unabhängigkeit der Ukraine gab es kein Halten mehr. Bandera erlebte eine Auferstehung als Märtyrer. Alle ukrainischen Präsidenten würdigten ihn fortan als wichtigen Vorkämpfer für die Befreiung von russischer wie sowjetischer Bevormundung. Straßen und Plätze tragen seinen Namen, Denkmäler und Statuen zu seinen Ehren gibt es zuhauf.
Insbesondere der »Rechte Sektor« und das Asow-Regiment verehren ihn. Auch wenn ukrainische Historiker allmählich wieder eine kritische Haltung wagen und die Massaker an Juden und Polen auf direkten oder indirekten Befehl von Bandera aufzuarbeiten beginnen: Die zeitgleichen Morde an Rotarmisten und Sowjetfunktionären werden bislang weiter verschwiegen.
Das könnte sich jetzt ändern. Die Offentlichkeit ist alarmiert – auch dank der Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Berlin. Insofern könnte man Melnyk als unfreiwilligen Helfer von Moskau bezeichnen, hat er doch mit seiner völlig abstrusen, ahistorischen Verherrlichung von Stepan Bandera eine Debatte über die enge Verflechtung von nationalistischen und faschistischen Kräften, von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Antisemitismus und Antikommunismus angestoßen. Und zwar nicht nur über deren Folgen in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.