- Politik
- Afghanistan
Totalzusammenbruch des Wirtschaftssystems
In Afghanistan tickt die Uhr für 40 Millionen Menschen, die einen Hungerwinter fürchten müssen
Afghanistan steht am Rande eines humanitären Abgrunds. Das Erdbeben im Südosten des Landes vom 22. Juni hat noch einmal die ganze Tragödie des Landes verdeutlicht. Die Lage scheint erschreckend aussichtslos, gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl hilfsbedürftiger Menschen weiter gestiegen: 24,4 Millionen Menschen, entsprechend 59 Prozent der Bevölkerung, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen; zu Beginn des Jahres 2021 waren es »nur« 18,4 Millionen, heißt es im jüngsten Bericht des UN-Generalsekretärs. Zwischen Januar und Ende April 2022 konnten 20 Millionen Menschen mit humanitärer Hilfe erreicht werden, berichtet der amtierende Afghanistan-Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs, Ramiz Alakbarov.
Die Menschen in Afghanistan sind von Hilfslieferungen abhängig, da nach der Machtübernahme der Taliban das Wirtschaftssystem zusammengebrochen und in der Folge der internationalen Sanktionen seitdem nicht wieder auf die Beine gekommen ist. Nach UN-Angaben ist die afghanische Wirtschaft seit August 2021 um schätzungsweise 30 bis 40 Prozent geschrumpft; Produktion und Einkommen seien um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen, während die Zahl der Haushalte, die Geldüberweisungen erhalten, um 50 Prozent gesunken sei. Dabei waren gerade diese immer eine der wichtigsten Einnahmequellen vieler Familien. Die Vereinten Nationen schließen nicht aus, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr 40 Prozent erreichen könnte – gegenüber 13 Prozent im Jahr 2021; einige Prognosen deuteten darauf hin, dass die Armutsquote bis Ende 2022 auf 97 Prozent ansteigen könnte. Außerdem seien viele Familien verschuldet, nach Schätzungen etwa 82 Prozent der Haushalte. Aus dieser Schuldenfalle wieder herauszukommen erweist sich angesichts der wirtschaftlichen Lage als praktisch unmöglich.
Es fehlt schlicht an allem in Afghanistan: an Nahrung, Medikamente, Ärzten, sauberes Wasser, Unterkünfte. Das Erdbeben hat die Lage der Menschen in den betroffenen Gebieten noch verschärft. Der World Health Organization (WHO) zufolge kamen bei dem Beben über 1000 Menschen ums Leben, fast 3000 wurden verletzt und 4500 Häuser in den Provinzen Paktika und Khost mehr oder weniger schwer beschädigt. Das UN-Koordinationszentrum für humanitäre Hilfe OCHA teilte mit, dass es gemeinsam mit seinen Partnern einen Appell für 110 Millionen Dollar gestartet hat, um in den nächsten 90 Tagen 362 000 Menschen in den am stärksten betroffenen Gebieten von Paktika und Khost dringend zu helfen. »Zusätzlich zu den tragischen Todesopfern und Verletzten hat das Erdbeben auch Häuser, Gesundheitseinrichtungen, Schulen und Wassernetze zerstört, so dass Tausende von Menschen weiteren Schäden ausgesetzt sind«, sagte der Sprecher Jens Laerke vor Reportern. Der Aufruf sei Teil des diesjährigen Gesamtplans für humanitäre Hilfe in Afghanistan, so Laerke weiter. Nur mangelt es an Rückhalt aus der internationalen Gebergemeinschaft. Um den Plan umzusetzen, würden 4,4 Milliarden Dollar benötigt, diese seien aber bisher nur zu 34 Prozent finanziert worden, sagte Laerke.
Die Taliban sind auf die Hilfe aus dem Ausland angewiesen, aber inzwischen werden auch Stimmen laut, die die Verknüpfung von Unterstützung mit Forderungen an die Taliban zurückweisen. Bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte hat Taliban-Anführer Hibatullah Akhundzada sich Einmischung aus dem Ausland verbeten. »Warum mischt sich die Welt in unsere Angelegenheiten ein?«, sagte er am Freitag bei seinem überraschenden Auftritt in der traditionellen Stammesversammlung, der Loja Dschirga, in Kabul. Für Afghanistan komme nur das islamische Recht der Scharia infrage. »Sie sagen: Warum macht Ihr nicht dies, warum macht Ihr nicht jenes«, kritisierte Akhundzada die internationale Gemeinschaft in einer einstündigen Rede, die vom Staatsrundfunk übertragen wurde. »Warum mischt sich die Welt in unsere Arbeit ein?«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.