Der Ausstieg ist noch nicht komplett

Atomkraftgegner feiern die bevorstehende Abschaltung der letzten AKW mit zwei großen Radtouren

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Anti-AKW-Bewegung tritt auch in diesem Sommer wieder in die Pedalen.
Die Anti-AKW-Bewegung tritt auch in diesem Sommer wieder in die Pedalen.

»Dem Ausstieg entgegen«: Unter diesem Motto stehen zwei jeweils mehrwöchige Radtouren durch Nord- und Süddeutschland, mit denen Atomkraftgegner in diesem Sommer die bevorstehende Abschaltung der letzten Atomkraftwerke feiern wollen. Die Reaktoren Emsland, Isar-2 und Neckarwestheim-2 sollen ungeachtet aller politischen Wiederbelebungsversuche zum Jahresende vom Netz gehen. Gleichzeitig möchten die Radlerinnen und Radler mit den Fahrten daran erinnern, dass der Atomausstieg noch längst nicht komplett vollzogen ist. Die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau und die Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen sind bekanntlich vom Ausstieg ausgenommen und haben unbefristete Betriebsgenehmigungen. Und in den zentralen Zwischenlagern Gorleben, Ahaus und Lubmin sowie an den AKW-Standorten muss der hoch radioaktive Müll noch Jahrzehnte aufbewahrt werden, bis frühestens ab 2080 ein Endlager befüllt werden kann.

Organisator der Radtouren ist die Anti-Atom-Organisation Ausgestrahlt. Die Etappenziele sind meistens frühere oder aktuelle Standorte von Atomanlagen, Umschlagplätze für Atommüll oder Orte, die für die Anti-Atom-Bewegung aus anderen Gründen eine wichtige Rolle spielten. Nach Ankunft der Radlerinnen und Radler sind dort abends Kundgebungen, Veranstaltungen oder Feste geplant.

Die Nordtour startet am 9. Juli am belgischen AKW-Standort Tihange. In Block 2 dieses Atomkraftwerks müssen laut Ausgestrahlt wegen Tausender feiner Risse im Reaktordruckbehälter mehrere Millionen Liter Notkühlwasser permanent auf 40 Grad erwärmt werden. Anderenfalls könnte bei einem Störfall der Temperaturschock so groß werden, dass der Reaktor birst. Über Aachen – in der heimlichen Anti-Atom-Hauptstadt Aachen kickt der örtliche Fußballclub Alemannia zugunsten des Widerstandes, hier initiierte der Städteregionspräsident Anti-AKW-Klagen von mehr als 100 Kommunen, hier demonstrierten schon mehrere Zehntausend Menschen gegen Atomenergie – und das Forschungszentrum Jülich mit seinem Kugelhaufenreaktor geht es nach Keyenberg. Das Dorf soll dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen.

Weitere Stationen sind Krefeld, wo die Stempelkamp Behältertechnik GmbH Transport- und Lagerbehälter für radioaktive Stoffe fertigt, das Schnelle-Brüter-Grab Kalkar, Ahaus, Gronau und Lingen. In Esenshamm an der Unterweser und Stade an der Elbe informieren sich die Teilnehmer*innen über die Probleme beim Abriss von Atomkraftwerken. Auch Bremen und Hamburg, Drehscheiben für Atommülltransporte aller Art, sowie die stillgelegten AKW Brokdorf und Krümmel werden auf der Nordtour angefahren.

Entlang der Castor-Transportstrecke geht es schließlich nach Gorleben, wo am 30. Juli ein Abschaltfest auf dem Programm steht. Bereits am Freitag vor Pfingsten hatten hier rund 10 000 Menschen gefeiert, dass der unterirdische Salzstock aus dem Suchverfahren für ein Atomendlager ausgeschieden ist. Mit mehreren Tonformationen bleibt das Wendland gleichwohl im Suchprozess. 

Startpunkt der Südtour ist am 13. August Kahl (Kreis Aschaffenburg). Hier ging Anfang der 60er Jahre das erste kommerzielle Atomkraftwerk der Bundesrepublik ans Stromnetz. Nächstes Etappenziel ist Hanau – die Stadt beherbergte zeitweise die europaweit größte Ansammlung von Nuklearfirmen. Nach einem Stopp im Wald an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens, wo sich vor Jahrzehnten viele Tausend Demonstranten heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten, geht es nach Büttelborn, wo »freigemessener« Bauschutt aus dem Abriss des nahen AKW Biblis auf einer Deponie gelagert werden soll.

Auf der weiteren Strecke liegen unter anderem die AKW-Standorte Biblis, Obrigheim, Neckarwestheim, Gundremmingen sowie das Kernforschungszentrum Karlsruhe. In Mutlangen treffen die AKW-Gegner*innen Aktive aus der Friedensbewegung. Abends steht eine Besichtigung des ehemaligen Atomwaffenlagers auf dem Programm.

Nach einem mehrtägigen Abstecher durch die Schweiz und entlang des Hochrheins erreichen die Radler*innen am 1. September das französische AKW Fessenheim und – nach einem Zwischenhalt in Breisach – am 2. September das Dorf Wyhl. Das zunächst in Breisach, später in Wyhl geplante Atomkraftwerk wurde durch Großkundgebungen, Bauplatzbesetzungen und ein bis dahin ungekanntes Bündnis aus örtlichen Winzer*innen, Hausfrauen, Honoratior*innen und zugereisten AKW-Gegner*innen verhindert. Am Kaiserstuhl, sagen viele, stand »die Wiege der Anti-AKW-Bewegung«. Ein familienfreundliches Anti-Atom-Fest mit Musik und Kultur in der »Solarhauptstadt« Freiburg beschließt am 3. September die Südtour.

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