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Filmreifer Abgang auf Raten
Boris Johnson tritt als Tory-Parteichef zurück und bleibt übergangsweise britischer Premierminister
Es war alles andere als ein würdevolles Statement, aber das hätte auch nicht Boris Johnsons Charakter entsprochen. Frustriert, trotzig und prahlerisch bis zum Ende gab der Premierminister am Donnerstagmittag vor seinem Amtssitz seinen Rücktritt als Tory-Chef bekannt. Johnson war keine andere Wahl geblieben: Die Unterstützung innerhalb der Partei war so dramatisch zusammengeschmolzen, dass er kaum mehr eine funktionsfähige Regierung auf die Beine stellen konnte. Knapp drei Jahre nach seinem Einzug in der Downing Street 10 steht die Ära Johnson vor dem Ende.
»Ich bedaure sehr, dass ich den besten Job der Welt aufgeben muss«, sagte Johnson, als er sich ans Rednerpult in der Downing Street stellte. In seiner kurzen Ansprache streifte er seine Errungenschaften: den Brexit, die Unterstützung für die Ukraine, das britische Covid-Impfprogramm, den Wahltriumph von 2019. »Ich hatte das Gefühl, dass es meine Pflicht ist, weiterzuführen, was wir damals begannen«, sagte Johnson.
Deshalb habe er sich in den vergangenen Tagen so sehr gegen seinen eigenen Rücktritt gestemmt. Es sei »exzentrisch«, gerade jetzt die Regierung zu wechseln, sagte er mit Blick auf seine Kritiker. Und sowieso lägen die Tories in den Meinungsumfragen nur wenige Punkte hinter der Opposition. Es klang, als ob er noch immer nicht einsehen wollte, weshalb er abtreten muss.
Die Schuld für seinen Niedergang schiebt Boris Johnson einzig und allein seiner Fraktion in die Schuhe: »Herdeninstinkt ist mächtig«, erklärte er. »Wenn sich die Herde bewegt, dann bewegt sie sich.« Johnson verlor kein Wort über die eigenen Fehler und Skandale und betonte zugleich, er habe noch versucht, seine Partei von seinem Verbleib zu überzeugen. »Ich bedauere, dass ich keinen Erfolg hatte mit diesen Argumenten, und natürlich ist es schmerzhaft, so viele Ideen und Projekte nicht selbst vollenden zu können«, sagte er. Bis ein neuer Premier im Amt ist, will Johnson das Land aber weiter führen.
Johnsons Rücktritt war ein Moment, auf den viele seiner Parteikollegen seit Tagen, Wochen, manche sogar Monaten sehnlichst gewartet hatten. Aber der Tonfall seines Statements stieß viele vor den Kopf – sie hatten sich zumindest ein Minimum an Demut erhofft. »Lächerlich, überhaupt keine Selbstreflexion«, sagte ein Tory gegenüber dem »Guardian«.
Genau so hatte sich Johnson auch in den Tagen zuvor verhalten. Der Rücktrittsentscheidung waren erstaunliche Szenen vorangegangen, wie man sie im britischen Politbetrieb noch nie gesehen hat: Einen Premierminister, der sich mit aller Kraft und entgegen aller Vernunft in der Downing Street festkrallt. Johnsons Regierung war am Mittwoch wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen, etwa fünfzig Minister, politische Amtsträger und Berater waren aus Protest gegen den Regierungschef zurückgetreten.
Am Abend hatten sich die wichtigsten Kabinettsmitglieder im Regierungssitz eingefunden, um sich mit Johnson zu bereden. Zu dem Zeitpunkt war der großen Mehrheit seiner verbleibenden Minister klar geworden, dass eine Demission des Premierministers unausweichlich geworden ist – dies dem Chef klarzumachen, war der Zweck des Treffens. Auch Innenministerin Priti Patel, bislang eine treue Anhängerin von Johnson, legte ihm den Rücktritt nahe. Aber kurz darauf drangen erste Gerüchte aus der Downing Street: Boris habe überhaupt nicht vor, aufzugeben: »Er ist zuversichtlich, er ist bereit für einen Kampf«, ließ einer seiner Mitarbeiter im Anschluss an das Treffen verlauten.
Es waren Szenen, die direkt aus einem Shakespeare-Stück stammen könnten: Ein zunehmend realitätsferner Regierungschef, dem die Unterstützer im Minutentakt abhandenkommen, der aber so tut, als sei dies lediglich eines jener kleinen Probleme, mit denen sich ein Premierminister von Zeit zu Zeit herumschlagen muss. »Er ist verrückt geworden«, soll einer seiner Minister gesagt haben.
Filmreif war auch die Art und Weise, wie Johnson mit Michael Gove verfuhr: Sein ehemaliger Rivale, der ihm im Kampf um die Tory-Führung 2016 in den Rücken gefallen war, hatte sich in den vergangenen Jahren zu einem treuen Anhänger des Premierministers entwickelt – zuletzt war er als Minister verantwortlich für den ökonomischen Ausgleich, das wichtigste Projekt Johnsons. Aber selbst diesem ergebenen Unterstützer war am Nachmittag wohl klar geworden, dass Johnson gehen müsse. Das habe er ihm auch nahegelegt, berichtet die britische Presse: Gove soll Johnson eine Frist bis um 21 Uhr am Mittwoch gegeben haben, um seinen Rücktritt anzukündigen. Johnson tat dies nicht – aber genau um 20.59 Uhr feuerte er Michael Gove.
Über Nacht und am Donnerstag früh folgten weitere Rücktritte von Ministern. In Westminster fragte man sich, ob es überhaupt noch genügend Johnson-Anhänger gibt, um die vakanten Posten zu füllen – eine normal funktionierende Regierung schien zunehmend unmöglich. Zuletzt forderte auch noch Nadhim Zawahi, der neue Finanzminister, den Johnson weniger als zwei Tage zuvor ernannt hatte, den Rücktritt seines Chefs. »Tun Sie das Richtige und gehen Sie jetzt«, schrieb er. Erst dann, als Johnsons Optionen auf Null geschrumpft waren, gestand er sich ein, dass ihm nur der Abgang blieb.
Damit naht die Amtszeit Johnsons ihrem Ende, und der Kampf um seine Nachfolge hat begonnen. Johnson wird unterdessen als amtierender Premierminister weiterhin die Regierungsgeschäfte führen. Er hat bereits ein neues Kabinett zusammengestellt. Wie lange diese Übergangsphase dauern wird, ist derzeit noch nicht klar. Der Zeitplan der Tory-Führungswahl wird vom 1922-Hinterbänkler-Komitee festgelegt. Dieses wird sich wohl Anfang nächster Woche treffen, um die Details auszuarbeiten.
Viele seiner Kollegen sind wenig angetan von der Idee, dass Johnson noch mehrere Monate weitermachen könnte – sie wollen ihren Chef so schnell wie möglich loswerden. Seine Minister seien gerade seinetwegen zurückgetreten, schreibt der Tory-Abgeordnete Simon Hoare auf Twitter. »Es ist unglaublich, falls Herr Johnson jetzt im Amt bleiben sollte, selbst wenn es nur für befristete Zeit ist.«
Sein ehemaliger Chefberater Dominic Cummings warnt ebenfalls davor, Johnson als Premierminister länger als nötig beizubehalten: »Ich kenne diesen Typen, lasst euch gesagt sein: Er glaubt nicht, dass es vorbei ist.« Er wolle auf Zeit spielen, um sich am Ende doch noch irgendwie zu retten. Mit seiner bockigen Rücktrittsansprache wird Johnson solche Bedenken nicht gerade zerstreut haben.
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