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Das siehst du nie wieder!
Zum 90. Geburtstag des Journaldichters Jürgen Becker
Im Garten waren plötzlich unbekannte Katzen aufgetaucht. Am Telefonat, das von einem Inseldorf kommt, sind nur die Hintergrundgeräusche interessant. Betörend: eine Ansichtskarte aus dem heißen Griechenland, jetzt, mitten im überraschenden Wintereinbruch. Und oben am Haus der Specht, der gibt den alten Zimmerbalken den Rest. Die Schallplatte «Sing Nachtigall sing» reizt zu der netten Frage, was Onkel Heinz wohl im Krieg gemacht hat. Das laute Lachen aus dem Nachbarhaus – wissen die nicht Bescheid, wie es um die Welt bestellt ist?
Solcher Art ist das, was Jürgen Becker schreibt. Kurze Beobachtungen. Mehr nicht. Vorstellungen, was man tun könnte. Überlegungen, was zu unterlassen sei. Wahrnehmung neben Wahrnehmung. Manchmal kommt es fast zu einer kleinen Geschichte. Fast. Dann aber stehen da nur wieder Sätze, Aphorismen gleich, aber es fehlt die Pointe. «Heute bin ich über die Wiese gegangen, und ich hatte auch nichts anderes vor.» Oder: «Am längsten bleibt das Sonnenlicht in den großen Sälen liegen.» Oder: «Mit Blaulicht rast der Notarzt in den Ort. Die alten Nachbarn sehen sich an. Keiner fehlt. Alle noch am Tresen.»
Beckers Journalgeschichten und -gedichte («Schnee in den Alpen», «Die folgenden Seiten», «Im Radio das Meer», «Was wir noch wissen», «Jetzt die Gegend damals», «Graugänse über Toronto») bilden seit Jahrzehnten ein Kaleidoskop jenes Flüchtigen, das wir tagtäglich leben, und das trotz seiner geringen Bedeutung das Unbezwingbare unserer Existenz ausmacht. Journal – das erinnert bewusst ans Unliterarische, es hat etwas von Zeitung; aber dem Dichter gelingt es, Information und Bericht wieder zu verrätseln. Der Büchner-Preisträger zieht uns in eine scheinbare Oberflächenströmung hinein, in Augenblickswirbel, darunter aber auch: das Lauern jener Vergeblichkeit, die unserer Daseinsdrift eingeschrieben bleibt.
Der Dichter aus dem Odental, Jahrgang 1932, wurde zum Chronisten dieser Drift, seine Journale machen gelebte Zeit durchsichtig. Er addiert Einzelheiten, wechselt aus Zufälligem ins Absichtsvolle, ohne dass die Reize des Vagabundierens sich verlören. Peter Handke hat in einer Laudatio vom «Grundzug eines zögernden Umreißens» gesprochen. Wovor Becker zögert, ist die Dingfestmachung. Was war, was ist, was sich als Vorstellung von Zukunft herausbildet – alles bildet einen fortwährenden Schwebezustand der Empfindungen, der Eindrücke, der bewusstseinsfilmischen Fetzen. «Bilder schieben sich durchs Zimmer, die in der Dunkelheit rasch wieder verschwinden. Es sind Bilder aus einem Leben, das uns vor Augen führt, wie unser Leben hätte sein können. Die Möglichkeiten, die wir berührt haben, sind nicht wiedergekommen, und wir haben sie auch nicht mehr gesucht. Die Spuren des Konjunktivs kann man nicht sehen.»
Stets war Becker ein unaufgeregter Vorbeischreiber am Literaturbetrieb. Seine Bücher fabulieren feinfühlig mit an jenem Danach, das dem 19. Jahrhundert des großen Romans folgte. Abwartendes Schauen – wie in frühen Filmen von Wim Wenders. «Dahinten, da soll was los sein.» Wieder so ein Satz, sehr allein steht er da, wir kennen ihn, wir kennen diese Art von Erwartung, und der Satz sagt: Nichts ist los, und nie wird was los sein. Es ist dies der erregende Kern unseres Lebens. Samuel Beckett hat es in den bodenlosen Ausruf gefasst: «Wie erträglich das alles ist, mein Gott.»
Beckers Lyrik und Prosa ist ganz dieser Beckett-Satz, aber ohne jede Ironie und auch ohne jede Bitterkeit. «Erst als der Baum kahl war, sahen wir, dass viele kleine Äpfel hängen geblieben waren.» Oder: «Andere Wolken. Nächster Regen. Neuer Schnee.» Aber dann folgt eine Notiz, in der die Furie des Verschwindens nach deinem Herz schielt: «Diese vorbeiziehenden Wollen siehst du nie wieder.» Sei wach zu dir selbst, und es durchfährt dich: Zu jeder gelebten Sekunde gehört ein solches entsetzliches «Nie wieder!».
«An mein Leben denkend, sagt er, … fallen mir immer bloß Sätze ein, manchmal nur noch einzelne, manchmal ein paar mehr.» Jörn Winter sagt das, Schriftsteller, bekannt aus Beckers Büchern «Der fehlende Rest», «Aus der Geschichte der Trennungen», «Schnee in den Ardennen». Ein Mensch, der Lust weckt, ihn mit Becker zu verwechseln. Dieser selbst legt die Spuren: Jörn Winter sei eine Person, «die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild.» Aber freilich zeigt der Spiegel ein Bild vieler biografischer Momente aus Beckers Biografie.
Die ostwestdeutsche Zeit nach dem Krieg. Umzug von Köln nach Thüringen und zurück. Bauernjungs auf den Schulbänken; wegen der Kleidernot trugen sie ihre alten Jungvolk-Uniformen. Die Abneigung gegen Schiefertafeln. Daheim die Regale voller Einmachgläser. Der Romantikhauch der Dachkammer. Bombenfunde und Spiel mit Granatsplittern. Warum ging man aus Thüringen wieder in den Westen? Früher Abwehrreflex gegen das ostdeutsche «Angebot», sich vergesellschaften zu lassen. Damit verbunden der Gedanke an Orte «für ein Leben im Abseits». Als könne man sich auf der Welt einrichten «in einer Art Zurückgezogenheit, die einen vom Mitmachen fernhält». Deutsche Erfahrung peinigt: Ein Verwandter konnte sich nicht fernhalten vom Druck der Zeit, ein Kriegstraumatisierter – «als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz».
Becker lenkt hin zu all dem Quälenden des 20. Jahrhunderts: Hochzeiten von Weh und Wohl. Der dichterische Blick offenbart eine Philosophie des Praktischen: wirklich auf Erfahrungen des Dorfkreises zu bauen und jene – von Utopisten gern geschmähte – Kleinheit des Menschen offen anzunehmen. Die in Wahrheit eine große Überlebenskraft sein kann. Kleinheit in Schönheit – aus Nebelschwade und Krähenflug, Birnbäumen und Spechthämmern. «Wo die Baracken für die Zwangsarbeiter standen, ist wieder Kiefernwald gewachsen. Ein Lob den alten Gerätschaften, Lob auch der alten Bahnsteigkarte und dem guten alten Abenteuer: »Oft, wenn Jörn vom Geländespiel heimkam, musste die Mutter den Verbandskasten holen.«
Leben, das heißt für jeden Menschen gleich und für jeden Menschen doch auch anders: dem Durcheinander von mehr oder weniger zufälligen Ereignissen vorsichtig eine Gestalt geben zu wollen, die bejahenswert erscheint. Gern und gut zu leben heißt: die eigene Welt nicht an die Welt zu verlieren. Die rücksichtslos herandrängt. »Krisengebiete, bewaffnete Auseinandersetzungen, kein Tag ohne Schusswechsel, Flüchtlinge, Verletzte, Tote … Jörn macht das Fenster auf und fragt sich, wie lange sie noch bleibt, die Stille draußen in der Nacht.« An diesem Sonntag wird Jürgen Becker 90 Jahre alt.
Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte. 1971–2022. Hg. und mit Nachwort versehen von Marion Poschmann. Suhrkamp-Verlag, 1120 S., geb., 78 €;
Jürgen Becker: Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte. Suhrkamp-Verlag,
76 S., geb., 20 €.
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