Der Himmel um fünf Uhr morgens

Der Studiengang für Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule "Ernst Busch" in Berlin feierte an drei Tagen sein 50-jähriges Bestehen

  • Dorte Lena Eilers
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Herausforderung für das Theater: Puppenspiel, wie es an der Hochschule "Ernst Busch" in Berlin gelehrt wird
Eine Herausforderung für das Theater: Puppenspiel, wie es an der Hochschule "Ernst Busch" in Berlin gelehrt wird

Beginnen wir im Jetzt. Beschreiben wir die Szene so: ein Kasten in einem Kasten. Hochhausgroß der äußere, der innere quadratisch und schwarz. Nebel quillt über die Bühne und wir Menschen schauen zu. Berlin, Juli 2022. Doch gesichert, mal ehrlich, ist das nicht.

Ein Haus feiert Geburtstag. Oder besser gesagt: ein Haus im Haus. Streng genommen ein Teil einer Abteilung, aber das klingt zu technisch und blass. Wenn der Studiengang für Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule „Ernst Busch» in Berlin sein 50-jähriges Jubiläum feiert, sind die Gänge voll von unzuverlässigen Zeug*innen. Gestalten, die kräftige Füße, einen Kopf, aber keinen Mittelbau haben. Körper, die anfangen zu klingen, wenn man an Strippen zieht. Holzköpfe ohne Herzschlag, aber durchtrieben im Charakter. Gegenstände, die sprechen, ohne dass jemand sie danach fragt. In Zeiten, in denen in unseren Smart Homes, Smart Cars, Smart Factorys jedes Ding bald mit uns zu kommunizieren wissen wird, stellen die Objekte, die in diesem Studiengang und an diesem Jubiläumswochenende Mitte Juli zum Einsatz kommen, echte Trickster dar, die das, was ist, auseinanderzunehmen verstehen, um zu schauen, wie die Mechanik dahinter funktioniert.

Eine solche Unbedingtheit für offene Gebilde, für Einzelteile, die in ihrem Auftreten, wenn es gelingt, schwer einzuordnen sind, waren und sind eine Herausforderung für das Theater – zumal heute, wo sich der Mensch samt seiner glasklaren Einstellung hinter chromglänzenden Hüllen der Selbstgewissheit verbirgt. In der Kunst aber ist es die Lücke, in der die wahren Kräfte wirken, in der sich ein Gedanke, ein Gefühl, selbst der Schmerz einnisten kann. Auch Heiner Müller sah im Puppenspiel daher eine Chance: Durch die Trennung der Elemente, sagte er in Bezug auf das traditionelle japanische Marionettentheater, erfahre man mehr, als wenn alles über die Figur eines Schauspielers läuft.

So also steht am ersten Abend auch der Jubilar auf der großen Bühne: als weißer Nebel, der schwer zu fassen aus dem Keller hervorquillt. Der Studiengang kennt, wenngleich zahlreiche namhafte Künstler*innen aus ihm hervorgegangen sind – einige wie Suse Wächter und Rainald Grebe sind an diesem Wochenende da –, keine gestelzte Heldenverehrung, was angesichts der Beharrlichkeit narzisstisch grundierter Leitungsstrukturen in so manch einem Kulturbetrieb bereits an sich ein bemerkenswertes Statement ist. Vielmehr gleicht die Geschichte seiner Genese selbst dem Prinzip der Transformation. 1971 als Pilotprojekt für an Puppentheater interessierte Schauspielstudierende an der Staatlichen Hochschule für Schauspielkunst Berlin gestartet, wurde der Studiengang ein Jahr später mit der Berufung des ersten Fachmanns für Puppenspiel, Hartmut Lorenz, offiziell begründet. Platz jedoch für diesen Studiengang gab es nicht. So mussten zunächst auch die Studierenden mit ran, als es darum ging, Garagen in Probebühnen zu transformieren.

20 Jahre dauerte der Aufenthalt am Bruno-Bürgel-Weg in Berlin-Schöneweide; 1992 ging das Nomadentum dann richtig los. Rummelsburg, Schnellerstraße, Parkaue, schließlich Mitte, wo »die Puppe« nun verstärkt auch mit anderen Abteilungen interagiert. Dennoch scheint es besonders dieser Studiengang zu sein, der nach so vielen Jahren der Beweglichkeit weiß, was künstlerisches Miteinander bedeutet. »Das, was uns ausmacht«, betonte Studiengangsleiter Markus Joss in seiner Begrüßungsrede, »ist die Summe all derer, die hier gearbeitet haben.« Das Jubiläumswochenende war somit ein Treffen von lauter Kompliz*innen.

Hans Krüger, Student des ersten Jahrgangs und Mitgründer von Zinnober, der ersten freien Theatergruppe der DDR, gratulierte mit einer Performance. Rainald Grebe dachte singend über seine Künstlerevolution nach, während Suse Wächter mit Hans-Jochen Menzel, Pierre Schäfer, Rike Schuberty und Amelie Schmidt den Gründer der Schauspielschule, Max Reinhardt, lebendig werden ließ. Letzterer hatte vor allem damit zu kämpfen (»Alles Psychopathen hier!«), mit einer kruden Truppe, bestehend aus Wladimir Majakowski, Marlene Dietrich, Bertolt Brecht und Marilyn Monroe, einen nach allen Regeln der Schauspielkunst durchdachten »Sommernachtstraum« durchzuboxen. Ein Unterfangen, das aufgrund unterschiedlichster schauspielerischer Ansätze der Anwesenden – Reinhardt: »Sei eine Qualle!«, Majakowski: »Was ist Qualle?« – natürlich völlig hoffnungslos war.

Die Arbeit ist vor vielen Jahren entstanden, zeigt aber nach wie vor, wie sehr ein Studiengang wie das Zeitgenössische Puppenspiel mit seiner Öffnung der Form und der Wandelbarkeit ästhetischer Mittel den Apparat »Ernst Busch«, der sich aufgrund seiner Tradition nach wie vor dem literarisch stringenten, psychologisch grundierten Schauspiel verpflichtet fühlt, produktiv in Bewegung versetzt. Rektorin Anna Luise Kiss jedenfalls erklärte dem Studiengang in ihrer Eröffnungsrede ohne Umschweife ihre Liebe. Und auch viele ursprünglich fachfremde Kolleg*innen wurden auf diese Weise affiziert.

Regisseur*innen wie Tom Kühnel, Robert Schuster, Claudia Bauer, Nicolas Stemann, Thom Luz und Jan-Christoph Gockel arbeiten regelmäßig mit Objekten und Puppen. Vielleicht auch deshalb, weil diese im Zeitalter des Anthropozäns die menschliche Hybris untergraben. Oder weil sie wortlos viel erzählen. So ist es manchmal eben nur ein über die Lippen kreisender Labello-Stick oder ein überschäumendes Bier, die von der Erotik des Augenblicks berichten. »Tja, Freunde«, kommt einem bei dieser Performance von Enikő Mária Szász und Odile Pothier ein Satz des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño in den Sinn: »So ist sie, die Liebe«. »… die Liebe, das Maulwerk, die Straßen, die Sonette, der Himmel um fünf Uhr morgens – der auch.«

Das erste Licht des Tages indes wollten einige Nachbar*innen nicht mehr abwarten, als sie am Samstag um Punkt 23.15 Uhr die Polizei vor die Hochschule zitierten. Smart-Home-Bewohner*innen scheinen offenbar weniger smart zu sein, wenn es um die Aktivitäten in dem Theaterkasten in ihrer Nachbarschaft geht. Die Damen und Herren von der Streife jedenfalls stehen gerne auch mal mitten am Tag vor der Tür, wenn der Fechtunterricht die nachbarschaftliche Empfindsamkeit stört. Die Hochschule versucht die Lage mit regelmäßigen Gesprächen und Einladungen zu entschärfen. Dennoch verspürt man eine diebische Lust, das am nächsten Vormittag folgende Stück unter den Vorzeichen der hier herrschenden Spannungen zu lesen. In Jean Genets »Zofen« schlüpfen in der Regie von Naemi Friedmann die Spieler*innen Maximilian Teschemacher, Almut Schäfer-Kubelka und Sven Tillmann teils zu dritt in den echsenhaften Puppenkörper der »Gnädigen Frau«. Eine Art Sozialkörper entsteht, der in seiner physischen Präsenz Variationen klassistischer Unterdrückung offenbart. Ein Mensch kommandiert seine Mitmenschen herum. Warum? Weil er es kann. Und Geld hat.

Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa, ebenfalls kurzzeitig Puppenspiel-Studentin, hatte einmal über das Theater gesagt, man müsse ständig Luft in die Kiste blasen, um weiter auf die Suche zu gehen. Enden wir also im Morgen. Denken wir uns die Szene so: Der seit 2018 neu in die Abteilung integrierte Studiengang Spiel und Objekt hat zum ersten Mal ein Max-Reinhardt-Hologramm programmiert. Ausgestattet mit einem formvollendet rollenden R ist es beständig unterwegs, um bei Schampus und Wein mit erregten Nachbar*innen über die Kunst und das Leben zu diskutieren. Sowieso aber hat sich die Lage beruhigt. Der seit einigen Monaten über der Hochschule kreisende Kite, den Puppenbauer Ingo Mewes während der Corona-Pandemie entworfen hat, erzeugt so viel Energie, dass er das ganze Viertel versorgt. Und der Theaterkasten? Der dampft und raucht.

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