Bonbons und Barbarei

Gegen die herrschende Dreivierteltaktseligkeit: Am 18. Juli wäre Georg Kreisler hundert Jahre alt geworden

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Alle Idyllen lügen. Sie sind immer nur das Sahnehäubchen, das uns das Verbrechen darunter versüßen soll. Besonders in Wien, wo Georg Kreisler am 18. Juli 1922 geboren wurde. Er wuchs mit der Mahnung seiner Mutter auf: »Sei nicht so laut, wir sind Juden.«

Neben dem Gymnasium studiert Kreisler Musiktheorie und Klavier, weiß, was er werden will: Musiker. Über das Jahr 1938 schreibt er: »Als ich knapp 16 Jahre alt war, machte Hitler meinem sechzehnstündigen Arbeitsalltag ein Ende.« Die Familie emigriert in die USA, Kreisler muss die Eltern (der Vater ist Rechtsanwalt) ernähren, ein Cousin in Hollywood verschafft ihm Aufträge als Klavierlehrer und Korrepetitor.

1942 wird er zur US-Armee eingezogen. Mit Anfang 20 gehört er zu einer Spezialeinheit, die gefangene Nazi-Größen wie Göring und Kaltenbrunner verhört. Wie gewöhnlich das Monströse doch sein kann! Zurück in Hollywood sucht er 1946 Arbeit als Filmmusiker. Chaplin, der keine Noten lesen kann, verpflichtet ihn für »Monsieur Verdoux – Der Frauenmörder von Paris«. Er pfeift ihm die Melodie, die er im Kopf hat, vor, und Kreisler notiert die Noten, geht damit zu Hanns Eisler, der die Orchestrierung besorgt. Die Hollywood-Solidargemeinschaft der Emigranten funktioniert. Aber es reicht nur knapp zum Überleben.

Er hat eigene Lieder im Kopf, die von jenem schwarzen Humor zeugen, der nicht lügt, sondern die allgegenwärtige Lüge hörbar macht. Das Grauen im Walzertakt! Er hofft auf New York, die liberalste Stadt der USA. Doch ausgerechnet hier beginnen für ihn zehn bittere Jahre. Er spielt in Bars Selbstkomponiertes zu selbst geschriebenen Texten. Aber das will keiner hören. Eine Platte, die 1947 mit seinen Liedern erscheinen soll, wird gar nicht erst ausgeliefert. Das seien »unamerikanische Lieder«, so die Zensur. Immer wieder bekommt Kreisler mit solchen Verboten zu tun.

Auch als er 1956 nach Wien zurückkehrt, die Stadt, in der auf einmal alle NS-Opfer waren. Hier ist er der Störenfried, irritiert mitsamt unpassenden Erinnerungen und bösen Liedern die herrschende Dreivierteltaktseligkeit. »Gehen wir Tauben vergiften im Park«, trifft gut zehn Jahre nach Auschwitz den Nerv der Zeit – und darf im Radio nicht gespielt werden. »Der Frühling dringt ins innerste Mark / beim Tauben vergiften im Park«. Arsen und Zyankali in der einen Tasche, in der anderen »für uns was zu naschen«, das ist der Wiener, wie ihn Kreisler kennt. Der biedere Gestus des Verbrechens gibt diesem etwas Groteskes und damit auch Lächerliches.

Bereits Karl Kraus bekannte, sein Hass auf diese Stadt sei »nicht verirrte Liebe, sondern ich habe eine völlig neue Art gefunden, sie unerträglich zu finden«. Für Georg Kreisler kann Wien keine wiedergefundene Heimat sein. Mitunter sang er – mit jiddischem Akzent – »Ich fühl mich nicht zu Hause«. Daran entzückte ihn die Pointe, dass jemand nur dort existieren könne, wo man ihn schlecht behandle. Er blieb immer US-amerikanischer Staatsbürger. Auf die Frage, warum er nicht wieder Österreicher geworden sei, antwortete er kurz vor seinem Tod 2011, man habe es ihm nie angeboten. Fremd bleibt man im Besonderen dort, wo man sich zu gut auskennt.

Es entstehen – nun im Kontakt mit der Kabarettszene – in den 60er und 70er Jahren Platten, die beziehungsreiche Titel tragen: »Nichtarische Arien«, »Seltsame Gesänge« oder »Lieder zum Fürchten«. Keine Wohlfühlmelodien, oder doch: die Melodien schon – aber umso schockierender die Texte. Wie unerhört vertraut klingen Liedzeilen wie jene von »Epidemien zu Vorzugspreisen« und »außerdem natürlich Särge«, deren Preise allerdings steigen. Was passiert mit dem Menschen, der in der Logik des Warenhauses sozialisiert wird. Ist er irgendwie gefeit gegen die Versuchung zur Unmenschlichkeit, wenn sie ihm als überzeugende Kosten-Nutzen-Rechnung serviert wird?

»Jeder schwache Mensch bricht dem noch schwächeren das Genick.« Das ist eine Zeile aus einem der schönsten Lieder Kreislers, in dem sich der Sinn für das Makabre mit einer hochpoetischen Melancholie verbindet, die Georg Kreisler auszeichnet: »Zwei alte Tanten tanzen Tango mitten in der Nacht.« Man kann das auch als Gespenstergeschichte lesen, die von aus der Zeit – und jeder herrschenden Norm – Gefallenen handelt. Diesen bleibt bloß noch die Nacht als Zuflucht. »Chimären, als wären sie aus Spinnweben gemacht«. Kreislers Sympathie ist bei ihnen, wenn er schlaflos daliegend aus dem Fenster blickt – und die Schatten davor musizieren sieht.

Er konnte derb und direkt sein wie im Lied vom »Staatsbeamten«, der vor allem eines sein müsse: ein »Arschkriecher«. Aber auch das solle man nicht unterschätzen: »Am Anfang fiel mir das Kriechen etwas schwer.« Aber mit der Zeit gibt sich das, die Routine wächst. Sein Lied über den »Musikkritiker« sollte zum Bildungsprogramm für angehende Kulturjournalisten gehören. Aber soll man sich jene böse Lust, zugleich in ein Brötchen zu beißen und dabei Opern zu verreißen, wirklich verbieten? Nein, aber man sollte zumindest wissen, was man da tut: nichts Gutes.

Häufiger noch war Kreisler subtil bis zu einem skurrilen Kult der Einsamkeit, wie er als modernes Schicksal von einem Besitz ergreifen kann. Etwa in »Das Triangel«. Die ganze große Symphonie geht an einem vorüber und man selbst ist nur dazu da, an einer Stelle ein kurzes »Kling« beizusteuern. Und das ist dann schon viel, dafür soll man auch noch dankbar sein.

In einem seiner späten Interviews sagte Kreisler: »Gegen seine Überzeugung etwas zu machen, ist eine scheußliche Sache.« Er selbst konnte es nie, das zwang ihn oft zu langen Umwegen. Er sei nicht stolz auf irgendwas in seinem Leben, ergänzte er. Das Repräsentieren von was auch immer entsprach nun mal nicht seinem Naturell, das voller Skepsis war.

Georg Kreisler lebte und komponierte aus der Selbstermächtigung der Schwäche heraus. Er liebte seine bösen Lieder, die keine höheren Zwecke vortäuschten, sondern die Täuschung höherer Zwecke bloßstellten. Es lohnt sich, in diesen neuerlich ideologischen Zeiten sie wieder zu hören, den Genuss darüber mit ihm zu teilen, wenn er das falsche Pathos des Heroischen zerstört.

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