• Politik
  • Politische Krise in Italien

EU fürchtet Chaos in Rom

Nach dem Rücktritt von Mario Draghi ist die Zukunft der italienischen Regierungskoalition ungewiss

  • Wolf H. Wagner, Florenz
  • Lesedauer: 4 Min.

Die finale Entscheidung wird am Mittwoch erwartet. Dann nämlich soll der noch amtierende Regierungschef Mario Draghi – auf Wunsch und Druck des Präsidenten Sergio Mattarella – vor beiden Kammern des Parlaments erklären, ob er bereit ist, weiterzumachen oder auf seine Abdankung beharrt. Während sich Draghi am Montag zu Verhandlungen über weitere Gaslieferungen in Algerien aufhält, wird das politische Rom weiter köcheln. Die Fünf-
Sterne-Bewegung (M5S) will in einer Basisabstimmung klären, ob das Ultimatum gegenüber dem Regierungschef aufrechterhalten bleibt. Die anderen in der breiten Koalition vertretenen Parteien werden ebenfalls darüber befinden, ob sie das Regierungsbündnis fortsetzen.

Die Forderungen, die die Krise in Rom auslösten, sind dabei gut nachvollziehbar. M5S-Chef Giuseppe Conte hatte dem Premier ein 9-Punkte-Ultimatum gestellt, an dessen Beantwortung er den Verbleib der Sterne-Minister in der Regierung festmachen wollte. Es geht um die soziale Abfederung der Krise: um das Bürgergeld, einen Mindestlohn, Steuererleichterung, die Beendigung prekärer Arbeitsverhältnisse, Energiepreisdeckelung und finanzielle Unterstützung einkommensschwacher Familien, um den ökologischen Umbau der Gesellschaft – alles Punkte, mit denen die vom Kabarettisten Beppe Grillo gegründete Bewegung einst großen Anklang fand.

Verschiedene Szenarien sind nun denkbar: Die Option, dass Draghi bleibt, ist die, auf die nicht nur Staatspräsident Mattarella, sondern auch eine Mehrheit der Bevölkerung hofft. Infolge der internationalen Krisen ist die Lage auch in Italien deutlich angespannt. Die Energiepreise haben sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, die Verbraucherpreise so deutlich erhöht, dass viele Familien hierzulande in enorme Schwierigkeiten geraten, ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Eine Auflösung des Parlaments zum jetzigen Zeitpunkt und eine quasi Paralysierung des politischen Lebens dürfte die Lage nur noch verschlimmern. Dies sehen auch einige der wichtigen Politiker so: Ex-Regierungs- und Sozialdemokratenchef Matteo Renzi hat bereits mit einer Petition von über 50 000 Unterschriften versucht, den Draghi zum Bleiben zu bewegen.

Ein zweites mögliches Szenario wäre, dass Sergio Mattarella nach einer endgültigen Absage Draghis eine technische Regierung ins Leben ruft. Ähnliches geschah 2011, als Mario Monti Silvio Berlusconi ablöste, der sich in eine völlig desolate Situation manövriert hatte. Ein Kabinett dieser Art könnte bis zum Ende der aktuellen Legislatur im Frühjahr 2023 amtieren. Problematisch wäre jedoch, dass eine solche Administration kaum außenpolitische Befugnisse hätte und auch innenpolitisch nur die dringendsten Maßnahmen des Nationalen Wiederaufbauplans (PNRR), an den die Auszahlungen der EU-Hilfsmittel für Italien geknüpft sind, umsetzen dürfte. Andere dringende Fragen wären zunächst auf Eis gelegt und könnten erst mit der neugewählten Regierung im kommenden Jahr in Angriff genommen werden.

Denkbar ist auch, dass der Präsident das Parlament nach einem vollzogenen Rücktritt Draghis auflöst und Neuwahlen anordnet. Diese würden entweder am 25. September oder am 2. Oktober stattfinden. Diese Lösung würde das politische Leben in Italien völlig umkrempeln, mit derzeit noch nicht absehbaren Folgen auf internationaler Ebene. Denn sowohl im Vorfeld der jetzigen Krise als auch während der aktuellen Streitigkeiten demontierte sich M5S, der große Wahlsieger von 2018, permanent selbst. Der Ex-M5S-Chef und jetzige Außenminister Luigi Di Maio hat bereits vor Wochen die Partei verlassen und mit 62 weiteren Deputierten die eigene Gruppe »Italia per Futuro« (IPF, Italien für die Zukunft) gegründet. Weitere Abgeordnete sind bereit, Di Maio zu folgen.

Bei allen Wahlen in der jüngeren Vergangenheit versanken die Sterne quasi in der Bedeutungslosigkeit. Neuwahlen, so besagen es Umfragen, würden vor allem den rechten Parteien, der Lega von Matteo Salvini, den Postfaschisten Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni sowie der Forza Italia Sivio Berlusconis zugutekommen. Sowohl die Vorstellung eines politisch paralysierten Italiens als auch die einer rechtspopulistischen Regierung beunruhigt die EU-Partner deutlich. Aus Berlin und Paris ist so auch der Wunsch vernehmbar, Draghi möge im Amt bleiben. Denn nach dem Rücktritt Boris Johnsons in London und der vermeintlichen Unregierbarkeit Italiens fürchtet man hier vor allem um die Geschlossenheit im Auftreten zum Ukrainekonflikt. Das ganze Sanktionspaket gegen Russland sowie die militärische Unterstützung der Ukraine könnten mit einem Wechsel in Rom ins Wanken geraten, eine Vorstellung, die Brüssel wie Washington beunruhigt.

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