Ausgesetzt und weggeschaut

Recherche: Fast 27 500 Geflüchtete wurden seit 2020 Opfer eines Driftbacks in der Ägäis

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 3 Min.

»Etwa zehn Asylbewerber auf einem Schlauchboot wurden von der griechischen Küstenwache abgefangen und sind nach wie vor verschwunden. Am selben Tag wurden zwei Asylbewerber von der türkischen Küstenwache in der Nähe von Çeşme aus dem Meer gezogen, einer davon war bewusstlos und starb im Krankenhaus. Die Leichen von zwei weiteren Personen wurden später aus dem Meer geborgen, und zwei weitere Personen wurden auf der Insel Boğaz gestrandet gefunden. Eine siebte, vermisste Person wurde zwei Tage später lebend gefunden. Den Aussagen der Überlebenden zufolge wurden sie von griechischen Beamten mit gefesselten Händen ins Meer geworfen.« Dieser Vorfall ereignete sich am 19. März vergangenen Jahres vor der griechischen Insel Chios. Dokumentiert wurde er im Rahmen des Projekts »Driftbacks im Ägäischen Meer« von der britischen Rechercheagentur Forensic Architecture und der deutschen Schwesterorganisation Forensis in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen wie Alarmphone und HIAS Greece. Ein Driftback meint die Praxis des Aussetzens von Schutzsuchenden auf dem Meer, eine Variation des Pushbacks.

Der erste Fall dieser Art wurde laut Forensic Architecture am 28. Februar 2020 gemeldet und dokumentiert. Seitdem seien Beweise für 1018 Driftbacks in der Ägäis gesammelt worden, von denen 27 464 Geflüchtete betroffen waren. 26 Fälle wurden registriert, in denen Menschen von der griechischen Küstenwache direkt ohne Schwimmhilfen ins Meer geworfen wurden. Laut der Rechercheagentur sei die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex in 122 Driftbacks direkt involviert gewesen und habe von 417 Fällen Kenntnis gehabt. Der ehemalige Frontex-Chef, Fabrice Leggeri, war im April wegen Verwicklungen seiner Behörde in illegale Zurückweisungen von Geflüchteten zurückgetreten. Anfang Juli hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland zu Entschädigungen an die Überlebenden eines Schiffsunglücks mit Todesfolge vor Farmakonisi verurteilt – möglicherweise ein Pushback durch die griechische Küstenwache.

Noch im November vergangenen Jahres stritt der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis Pushbacks ab und sagte in einem aggressiven Tonfall gegenüber einer Journalistin: »Ich werde nicht akzeptieren, dass jemand mit dem Finger auf diese Regierung zeigt und ihr unmenschliches Verhalten vorwirft.« Auch jetzt noch sind Reaktionen der griechischen Regierung auf die Vorwürfe eine Mischung aus Leugnung und Falschbehauptungen.

Immer wieder fordern Politiker*innen und Aktivist*innen Konsequenzen für die griechische Regierung, etwa in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens. EU-Kommissarin Ylva Johansson hat laut einer Sprecherin bei ihrem jüngsten Treffen mit den griechischen Behörden erklärt, es müssten glaubwürdige und unabhängige Strukturen vorhanden sein, um alle Vorwürfe im Zusammenhang mit Pushbacks zu untersuchen. Die zuständigen Behörden müssten Anleitungen und Schulungen anbieten, um Zwischenfälle zu verhindern. Doch konkrete Sanktionen wie etwa Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission bleiben aus. Erik Marquardt, der für die Grünen im Europaparlament sitzt, sieht die Gründe dafür auch in der Parteienpolitik begründet. So ist etwa Margaritis Schinas, Vizepräsident der EU-Kommission und als Kommissar zuständig für Migration, Gleichheit und Diversität, Mitglied der griechischen Regierungspartei. »Es wurde genug geredet. Es muss endlich etwas getan werden, um diese Verbrechen an den EU-Außengrenzen zu beenden. Wenn die EU-Kommission dies nicht tut, sollte Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren einfordern – oder es selbst einleiten«, sagt Marquardt dem »nd«. Belege für Menschenrechtsverletzungen auf griechischem Hoheitsgebiet gibt es genug.

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