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- Prosawerk »Inland«
Er ist wir
Gerald Murnane über Leben und Fiktion
Dies ist ein besonderes Buch, keiner Gattung zuzuordnen. »Zuerst begann ich zu schreiben, weil ich eine Schwere spürte, die auf mir lastete, und weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich mich an eine bestimmte Sache erinnerte oder ob ich von der Sache träumte oder ob ich mich weder erinnerte noch träumte, sondern nur von mir träumte, ich täte dies oder das«, schreibt Gerald Murnane. Sein Buch heißt »Inland«, es verweigert sich einem raschen Lesefluss. Ein Autor erdenkt sich einen Mann, der von einer Frau träumt, die auf die Prärie schaut und in einen Jungen verwandelt, der das Grasland Australiens liebt. Dabei erinnert der Erzähler an bestimmte Pflanzen, Farben, Fische, Landkarten, Bücher und Mädchen, an das Gras in Emily Brontës »Sturmhöhe« oder das Gesicht einer Farmarbeiterin. Es ist möglich, die Lektüre an verschiedensten Stellen immer wieder aufzunehmen, und doch schlängelt sich ein rotes Band durch das Grasland Murnanes.
Bis in die 90er Jahre war der immer wieder als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelte Autor, der 1939 in Melbourne geboren wurde, seinen Heimatbezirk kaum je verließ und niemals ein Flugzeug bestieg, selbst in Australien relativ unbekannt. Im Suhrkamp-Verlag erschienen seit 2017 drei der zwölf Prosawerke Murnanes in der Übersetzung Rainer G. Schmidts, jetzt folgt sein frühes Werk »Inland« (Originalausgabe 1988). Die Assoziationen Murnanes kreisen um die erdachte Lektorin in der nordamerikanischen Prärie und den seltsamen Autor in der ungarischen Steppe, der an sie schreibt, im Rücken die Glaswände seiner Bibliothek voller Bücher, die er niemals aufschlägt. »Ich würde sie über das Jahr befragen, als sie von einem Kind zu einer jungen Frau wurde. Ich würde sie zu dem jungen Mann befragen, der als Erster ihre Kleidung aufknöpfte, in dem Bezirk, wo der Sio und die Sarviz nebeneinander flossen. Ich würde sie fragen, an was von dem jungen Mann sie sich erinnerte, wenn die Brise nachts von ihrer Traum-Prärie hereinwehte.«
Man ist versucht, die Beschreibung der Orte wörtlich zu nehmen, die Flüsse und Bezirke nachzuschlagen – und scheitert an der Ambivalenz der Topografie. »Ich begriff, dass keine Sache auf der Welt eine einzige Sache ist; dass jede Sache auf der Welt zumindest zwei Sachen ist und wahrscheinlich viel mehr als zwei Sachen.« Doch genau dann, wenn die Zeilen des erdachten ungarischen Autors sich im Kreis zu drehen beginnen, taucht der Junge auf. Der Junge und seine Bewunderung für das Mädchen aus der Bendigo-Street, an einer Schule im Melbourne der 1950er Jahre.
Es ist müßig, die biografischen Wurzeln in der Fiktion Murnanes zu erforschen; er selbst sagt in einem Interview, es gebe »keinen Unterschied zwischen meiner Fiktion, meinem Denken über die Fiktion und meinem Leben«. Da ist der Junge, der mit seinem durch Pferdewetten verschuldeten Vater, der Mutter und zwei Brüdern umherziehen muss. Auf der Flucht vor Gläubigern, die Goldfische in einer Keksdose auf den Knien. Das bewunderte Mädchen, für immer verloren: »Jede Person ist mehr als eine einzige Person. Ich schreibe über einen Mann, der an einem Tisch in einem Raum mit Büchern rings um die Wand sitzt und der Tag für Tag schreibt, mit einer Schwere, die auf ihm lastet.«
Murnanes mäandernde Prosa ist ein Wiedererkennen im Fremden. Er ist wir.
Gerald Murnane: Inland. A. d. Engl. v. Rainer G. Schmidt. Suhrkamp, 240 S., geb., 22 €.
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