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  • Fußball-EM der Frauen 2022

Die letzten Zweifel sind vertrieben

In einem Krimi gegen Spanien ziehen Englands Fußballerinnen bei der Heim-EM ins Halbfinale ein. Da soll diesmal nicht wieder Schluss sein

  • Frank Hellmann, Brighton
  • Lesedauer: 4 Min.
Georgia Stanway (l.) schoss Englands Fußballerinnen gegen Spanien ins Glück. Ihr 2:1-Treffer in der Verlängerung sorgte für die Entscheidung.
Georgia Stanway (l.) schoss Englands Fußballerinnen gegen Spanien ins Glück. Ihr 2:1-Treffer in der Verlängerung sorgte für die Entscheidung.

Am Ende hatte das Gejohle, Gekreische und Geschrei auch die letzte Seemöwe vertrieben. Im Falmer Stadium sorgte ein buntes Publikum aus Frauen, Männern und Kindern am Mittwochabend dafür, dass sich selbst das Wappentier des Premier-League-Klubs Brighton & Hove Albion (»The Seagulls«) nicht mehr im Tiefflug in die Nähe der 28 994 restlos begeisterten Fans wagte.

Der ausufernde Jubel über den Kraftakt von Englands Fußballerinnen im EM-Viertelfinale gegen technisch und taktisch lange überlegene Spanierinnen (2:1 nach Verlängerung) dröhnte vermutlich noch bis an die weit entfernte Seebrücke. Und auch am Tag danach lief in den Nachrichtensendern noch jene Szene, in der BBC-Expertin Alex Scott auf ihrer Empore vor lauter Begeisterung beinahe über die Brüstung gekippt wäre. Doch auch das ist gerade noch einmal gut gegangen.

Die »Three Lionesses« stehen zum vierten Male hintereinander bei einem großen Turnier im Halbfinale, das anders als bei der WM 2015, EM 2017 und WM 2019 diesmal jedoch nicht mehr Endstation sein soll. Über Sheffield ins Finale nach Wembley, um am letzten Juli-Sonntag auf dem heiligen Rasen die Trophäe zu empfangen – dann hätten Englands Frauen ihren ersten Titel und es nebenbei noch besser gemacht als die Männer im Vorjahr.

Dieses hochintensive K.-o.-Duell gedreht zu haben, zauberte Trainerin Sarina Wiegman ein breites Lächeln ins Gesicht: »Ich bin stolz auf die Mentalität meines Teams.« Anders als gegen Österreich (1:0), Norwegen (8:0) und Nordirland (5:0) galt es erstmals heftigen Widerstand zu überwinden, besonders als nach dem Rückstand durch Esther Gonzaléz (54.) Antworten zu finden waren, die in keinem Matchplan stehen. Lange waren beim englischen Team sogar Parallelen zum deutschen Aus bei der Heim-WM 2011 zu besichtigen, so verkopft und verkrampft ging die eigentlich eingespielte Stammelf zu Werke.

Also griff die gerade von einer Covid-Infektion genesene Wiegman ein: Die mit einer erstaunlichen Coolness ausgestattete 52-Jährige winkte ihre Rekordtorjägerin Ellen White (52 Länderspieltore) und beste EM-Torschützin Beth Mead (fünf Turniertreffer) vom Feld. Vermutlich hätte sich die niederländische Fußballlehrerin bis zu ihrem Lebensende vor britischen Boulevardreportern rechtfertigen müssen, wenn das schiefgegangen wäre. Hinterher sprach Wiegman davon, als sei die Wende wie selbstverständlich gelungen: »Wir haben so viel Qualität in unserer Mannschaft, dass es einfacher ist, Auswechslungen vorzunehmen, weil man weiß, dass die neuen Spielerinnen den Unterschied machen können.«

Eine Koproduktion zweier Einwechselspielerinnen bescherte England dann tatsächlich den umjubelten Ausgleich: Alessia Russo legte per Kopf vor, Ella Toone rauschte zum 1:1 heran (84.). Die französische Schiedsrichterin Stéphanie Frappart wollte da trotz eines grenzwertigen Ellbogeneinsatzes nicht eingreifen, zumal ihre Videoschiedsrichterkollegen Pol van Boekel und Dennis Higler, zwei Landsleute Wiegmans, keinen Bedarf sahen, die Szene am Kontrollmonitor überprüfen zu lassen. Vermutlich hätte das Stadioninventar die Rücknahme des Ausgleichstreffers auch nicht überstanden. So aber wackelten ein paar Minuten später wieder die Tribünen, als Georgia Stanway mit einem krachenden Fernschuss das 2:1 besorgte (96.).

Ein Happy End wie in einem Hollywood-Streifen. »Stanway to Heaven«, titelte das Boulevardblatt »Sun«. Von einer »Rakete« schwärmten »Telegraph« und »Independent«. Die bald zum FC Bayern wechselnde 23-jährige Stanway fand, ihr Tor sei eines, »auf das man stolz sein kann«. Diesen Tag werde sie in ihrem Leben nicht vergessen, fügte sie noch an, um ansonsten die Comeback-Mentalitäten ihres Teams anzupreisen.

Neben der Nummer zehn drängten an der englischen Südküste in der Tat noch andere Unterschiedsspielerinnen ins Rampenlicht. Allen Unkenrufen zum Trotz schwang sich Millie Bright zu einer Abwehrchefin der Extraklasse auf. Die 28-Jährige beförderte wie ein Flipperautomat die Kugel immer wieder aus der Gefahrenzone. Zudem strahlte in letzter Instanz auch Torhüterin Mary Earps enorme Ruhe aus, obgleich die 29-Jährige einst als Ersatz von Almuth Schult beim VfL Wolfsburg weder durch Trainingsfleiß noch mit Idealgewicht aufgefallen war.

Alles in allem hat England jetzt alle Zutaten eines Titelfavoriten beisammen, sodass die größte Gefahr das im Alltag auf der Insel ansonsten weitgehend ignorierte Coronavirus darstellt. Obwohl ein Massenausbruch im englischen Teamquartier in Teddington ausblieb, sind die Medienaktivitäten weitgehend zurückgefahren. Es ist wohl ohnehin besser, Taten statt Worte sprechen zu lassen.

Dass sich nach der bislang aufregendsten Begegnung dieser EM viele Eltern mit Kindern bereits nach der ersten Halbzeit der Verlängerung auf den Heimweg machten, war allein pragmatischen Gründen geschuldet. Die South Western Railway ist mit ihren oft überpünktlichen Zügen zwar ein leuchtendes Vorbild für die Deutsche Bahn, trotzdem wurde an den Abfahrten Richtung London nicht gedreht, nur weil da eine im Fahrplan nicht eingepreiste Verlängerung gespielt wurde. Viele Anhänger verpassten daher ihre Anschlüsse gen London. So jubelte tief in der Nacht auch noch manch Taxifahrer laut.

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