Die volle Dröhnung

Ein tiefer Zug voriges Jahrhundert: Die Rockpalast-Nacht wird 45

  • Michael Kernbach
  • Lesedauer: 7 Min.
Laut, schrill, wild: eine Rockpalast-Nacht 1984
Laut, schrill, wild: eine Rockpalast-Nacht 1984

Der Rockpalast, exakter: die Rockpalast-Nacht, ist Teil der Boomer-DNA der Bundesrepublik. So wie der Kalte Krieg, die »Otto«-Show, Zeltlagerferien und der Tanzkurs-Abschlussball. Durch die nächtlichen Marathonkonzerte waren die unerreichbaren Helden des Rock zu Gast in einem kollektiven, landesweiten Wohnzimmer. Die Rockpalast-Nacht des WDR öffnete für ein paar Stunden das Fenster in eine gefühlt freie, wilde Welt. Ein kollektiver Blick, wie er heute durch Smartphones und Youtube jederzeit erreichbar, individualisert und darum leider auch belanglos geworden ist.

»Rockpalast gucken« war aber mehr als reiner Musikkonsum. Es war identitätsstiftend, es war ein Statement. Sex, Drugs, Rock’n’Roll als anarchischer Lebensentwurf, den niemand jemals voll leben würde. Es war die Einladung, auch mal die Grenze zu den dunklen Seiten des Erwachsenseins zu überschreiten, ohne dafür sofort sanktioniert zu werden. Rockpalastnächte waren der Beginn des Rudelguckens, der Beginn von ersten oder lebenslangen Beziehungen. Die erste Rockpalast-Nacht lief am 23. Juli 1977.

Ein Flashback-Bericht. Wir schreiben das Jahr 1981.

»Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin/ denn dick sein ist ’ne Quälerei/ ich bin froh dass ich so’n dürrer Hering bin/ denn dünn bedeutet frei zu sein«, schallt es mit beeindruckender Lautstärke aus dem Partykeller von Jürgens Eltern. Marius Müller-Westernhagen, die coole Socke. »Na, du fette Sau«, schickt dieser am Songende noch hinterher. Jürgen und sein Freund Hanni nicken dazu mit entschlossener Mine. Sie wünschen sich insgeheim mehr solche deutliche Statements, statt der verlogenen Floskeln des Establishments. Letzten Fasching haben sie sich sogar als Punks verkleidet.

Die volle Dröhnung aus den mannshohen, selbstgebauten Hi-Fi-Boxen im Keller hat einen guten Grund. Sturmfreie Bude – und Rockpalast. Der Gipfel aller möglichen, weil real erreichbaren Vergnügungen. Jürgens Vater hat einen Kasten Bier und eine Flasche Dornkaat, dreifach gebrannten Korn aus Ostfriesland, spendiert. »Jungs, treibt es nicht so wild!« Und Jürgens Mama rührte einen ihrer berüchtigten Salate an: Kartoffel, Nudeln, Eier, Mayo pur. Liebesbekundungen der Wirtschaftswunderkinder.

Kaum sind die Eltern weg, schmuggeln Jürgen und Hanni einen weiteren Kasten in den Keller. Biertrinken und Rockmusik sind schließlich die direkte, fast metaphysische Verbindung zu unseren Stars mit den langen Haaren und den verzerrten Gitarren. Deep Purple, Frank Zappa, ZZ Top. Erdlinge, die so ganz anders sind als unsere Eltern, die als »Die Alten« eine Lebensform repräsentieren, die es vollständig abzulehnen gilt. Außer deren Partykeller. Und die gut gefüllten Schnapsreserven, die sie vornehm »Hausbar« nennen. Selbst im falschen Leben lässt sich immer etwas Richtiges finden.

Nach und nach trudeln dann alle ein. Bernd, Echse und der Freund von Echse, der nie was sagt und nach den ersten Bieren immer einschläft, Klääs, Duffy, Hens. Astrid und Dagmar sind auch eingeladen. Astrids Vater bringt die Mädels mit dem Auto und hinterlässt einen Blick in die Runde, der allen klar macht, dass er jeden tötet, der es wagt, die beiden anzufassen. Alle schauen betreten drein. Außer Astrid. Sie will heute Abend mit Bernd knutschen. Bernd weiß das aber noch nicht. Nun aber erstmal Prost, oder, wie unser neuestes Comic-Idol Werner Beinhart sagt »Hau wech den Scheiß!«

»Wer tritt heute auf?« Rockpalast in der Grugahalle, im Essener Stadtteil Rüttenscheid. Für uns so weit weg wie der Mond. The Who und Grateful Dead. Wow. Ein Hauch von Woodstock. Alternde Hippies, immer noch so cool.

Astrid sitzt schon neben Bernd. Bernd ist komplett überfordert. Rechts die feixenden Kumpels, links möglicherweise die erste Liebe. Sicherheitshalber noch ’ne Flasche Bier, mit dem Feuerzeug geöffnet. Zeitgewinn im Kampf gegen die Hormone. Eine selbstgedrehte Zigarette. Schwarzer Krauser. Nix für Kinder. Dann fachmännisches Abrülpsen im Rudel. Dagmar schüttelt es vor Ekel. Astrid sieht nur Bernd: Warum will er mich nicht knutschen? Bock auf einen Salat? Nicht für Echse. Wisst ihr noch, wie der strunzvoll bei der alten Weber in den Garten gekotzt hat? Nur mit Cowboystiefeln und T-Shirt an. Alle rasteten aus vor Lachen. Echse, der Kotzekönig. Die Geschichte wird noch zu seinem 50. Geburtstag die Runde machen. Und alle werden lachen, außer Hens. Ein Aneurysma wird ihn dann hinweggerafft haben; es waren fast 100 Leute auf seiner Beerdigung.

Dann geht’s los. Es moderiert Alan Bangs. So ein geiler englischer Akzent. Warum kann man nicht auch so einen haben? Statt des Dorfdialekts, wegen dem einen im Urlaub alle gleich so merkwürdig anstarren. Wer will Schnaps? Anstoßen auf Jürgens Vater. Angeblich geht er regelmäßig in den Puff. Wenn er nicht in der Kneipe oder auf dem Sportplatz ist. »Freitagsabends kam mein alter Herr/ immer besoffen nach Haus/ Er suchte in der Küche nach der letzten Flasche Bier/ und uns war das fast schon egal/ meiner Mutter und mir/ Das war als ich 17 war.« Trälert Morgenrot, eine Westberliner Band. Unsere Hymne. Läuft auf keinem Sender. Von ihr liest man auch nichts in der »Bravo«. Kennen nur die ganz Eingeweihten. Wir haben alle die Platte von Hens auf Kassette kopiert. Natürlich Maxell XL II 90. Und Hinterbandkontrolle auf dem Doppel-Tapedeck. High Fidelity. Fritz, das Popperschwein, hat natürlich schon so ein tragbares Kassettenteil mit Kopfhörern. Walkman von SONY. Das Gerät ist knorke!

Dann geht’s ab. Pete Townshend lässt den Arm kreisen wie eine Windmühle. »Substitute«, »I Can’t Explain« und »Baba O’Reily« mit der affengeilen Lasershow. Die Flasche Berentzen Apfel kreist. Der Freund von Echse guckt glasig. Gleich ist er wieder weg. Und dann klingelt es. Franco der Spanier. Aus der Wald-WG am Stausee. Weit weg. Von den Eltern. Der Schule. Dem Gesetz. Outlaw mit eigenem Putz- und Spülplan. Und der guckt nun mit uns Rockpalast? Jürgen begrüßt ihn betont selbstverständlich, kann aber die Genugtuung über den gelungenen Coup kaum unterdrücken. Franco der Spanier nimmt eine Flasche Bier: »Wie viel willst Du?« – »Nen Zwanni.« Franco nimmt eine dunkelgrüne Platte aus seinem Flokatibeutel und bricht ein Stück ab. »Viel Spaß, Männer«, winkt er in die Runde, trinkt sein Bier auf Ex und reitet mit seiner 80-Kubik-Honda in die Dunkelheit.

»Alter, ist das Dope?« Jürgen platzt fast vor Stolz. Ein Highlight jagt förmlich das andere. Haschisch, »Maria Johanna«. Die ultimative Straftat. Ein Zug und du bist dein Leben lang heroinabhängig. Oder wirst Terrorist wie die von der RAF. Hat bei denen genauso angefangen, sagt Onkel Werner. Dann heißt es: Ab in den Bau! Drei Jahre, mindestens. Das Leben, zerstört wegen einer Modedroge.

Dagmar will nach Hause. Astrid nimmt sie zur Seite. Wenn sie jetzt ihren Vater anruft, kriegen sie alle vier Wochen Stubenarrest: »Denk mal an Jürgen!« Dessen Vater hat bekanntlich eine lockere Hand.

»Bau mal eine, Jürgen.« Eine Tüte bauen, das macht man nicht einfach so. Einen Joint drehen, das gleicht einem religiösen Akt. Er brach das Dope und sprach: »Rauchet alle davon, denn dies ist mein Afghane, von dem ihr alle breit sein werdet.« Leider fehlt es in unserer Runde an einschlägiger Fachkompetenz. »Grüner«, stellt Klääs dann zumindest nach genauer Betrachtung des grünen Klumpens fest und beginnt, den Brocken mit seinem Feuerzeug zu erhitzen. Die abfallenden Brösel landen in einer merkwürdigen Konstruktion aufs Zigarettenpapier. Dann, anrauchen. Wie die Indianer in ihren Tipis.

Erst passiert nichts, dann fangen wir alle an zu lachen. Trockener Mund, notdürftig mit Bier gespült. Das duale System. Die Königsklasse im Breit-Sein. Schließlich mörderischer Hunger. Jürgens »Würgens« Salat. Ich schrei mich weg. Im Hintergrund jammt Jerry Garcia. Mehr Soundtrack geht nicht. Augen zu, Flug zu den Sternen. Per aspera ad astra. Mein Lateinlehrer wäre stolz auf mich. Oder auch nicht. Wen interessiert’s! Marius würde uns geil finden, die coole Socke.

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