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Freie Fahrt für Tunesiens Präsidenten

Kais Saied bekommt seine neue Verfassung bei geringer Wahlbeteiligung durch

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit einem Autokorso rund um die Avenue du Bourguiba feierten am Montagabend mehrere hundert Menschen den per Referendum angenommenen Verfassungsentwurf von Kais Saied. Der 2019 mit überwältigender Mehrheit gewählte Präsident hatte im Juni ein vermutlich selber verfasstes Papier der Öffentlichkeit vorgestellt, das ihm deutlich mehr Macht gibt. Lokale Repräsentanten sollen zukünftig die bisher über Parteilisten gewählten Abgeordneten ersetzen. Neun Millionen Wähler konnten landesweit darüber entscheiden, ob die als modern geltende parlamentarische Verfassung von 2014 weiter gilt oder die sogenannte zweite Tunesische Republik Geschichte ist.

97 Prozent der 2,46 Millionen abgegebenen Stimmen votierten für Saieds Verfassung. »Wir werden ein neues System aufbauen, in dem vor allem die Bürger in den vernachlässigten Regionen mehr Mitsprache bekommen«, so Saied nach seiner Stimmabgabe.

Die Wahlbehörde ISIE rügte den Bruch des Verbots von öffentlichen Äußerungen durch den Präsidenten. Die Zivilgesellschaft und die politischen Parteien halten die gesamte Abstimmung für illegal. Saied hatte am 25. Juli vergangenen Jahres das Parlament beurlaubt und die Regierung wegen der angeblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit abgesetzt.

Im Januar hatte Saied eine Verfassungskommission eingesetzt, die dann jedoch erst im Frühjahr ihre Arbeit aufnahm und innerhalb weniger Wochen ein Resultat vorlegen musste. Doch zum Erstaunen der Kommissionsmitgliederfanden ihre Ideen in dem später von Saied veröffentlichten Papier kaum Erwähnung. Kommissionschef Sadok Belaid trat daraufhin wütend vor die Presse und bezeichnete das Referendum als Rückkehr in die Autokratie. Vor allem die Erwähnung der Ziele des Islams, die der Staat zukünftig umsetzen müsse, nannte Belaid skandalös.

Kais Saied will das politische System Tunesiens grundlegend umbauen. Direkt nach der offiziellen Verkündung der Wahlergebnisse am Dienstagabend tritt eine Verfassung in Kraft, die eine klassische parlamentarische Demokratie durch eine eigentümliche Mischung aus präsidentieller Allmacht und Lokalräten ersetzt. Die seit der französischen Kolonialzeit vernachlässigten Regionen werden zukünftig in einem Zwei-Kammer-System vertreten sein, deren Vertreter von lokalen Kommissionen bestimmt werden. Die nach der Revolution von 2011 entstandenen politischen Parteien sollen zukünftig keine große Rolle mehr spielen. Kritiker sehen in Saieds Projekt die Rückkehr zu einem autokratischen System wie unter Langzeitherrscher Ben Ali (1987-2011 Präsident). Gerade in den marginalisierten Gegenden würde das bisher nur vage ausgearbeitete Wahlsystem jene an die Macht bringen, gegen die Saied in den letzten Monaten so vehement vorgeht. Schmuggler, ruchlose Geschäftsleute oder Islamisten haben dort das Vakuum, das der Staat hinterlassen hat, dafür genutzt, lokale Behörden zu unterwandern.

Das Referendum wäre von einem Verfassungsgericht wieder einkassiert worden, sagt die Menschenrechtsaktivistin Chaima Buhlel aus Tunis. Viele Vertreter der Zivilgesellschaft haben das Referendum boykottiert. Auch die Vorsitzende der derzeit populärsten Oppositionspartei PDL, Abir Moussi, kritisiert den Präsidenten scharf. Für ein privates Projekt habe der Präsident staatliche Institutionen missbraucht, so die umstrittene Politikerin, die dem alten Regime von Ben Ali nahe steht.

Aber auch Befürworter der Verfassung sind besorgt. Bei der Abgabe der Stimme in Bezirk Kram sagte ein Wähler, dass er für Saied stimme, weil dieser integer sei. »Aber was, wenn Leute wie Moussi oder die moderaten Islamisten der Ennahda Partei mit solcher Macht ausgestattet werden?«

Viele Tunesier unterstützen den oft hölzern wirkenden Saied, weil bei ihnen die im Westen gepriesenen Fortschritte bei der Demokratisierung Tunesiens nie angekommen sind. Von einem Friedensnobelpreis und Demokratie könne man sich nichts kaufen, hört man oft in verarmten Orten wie Kasserine oder Sidi Bouzid. Dort, wo der Selbstmord des Studenten Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 den arabischen Frühling auslöste, gilt wie im ganzen Land wegen der Gefahr durch Islamisten ein Ausnahmezustand. Die Polizei ermöglicht dies, willkürlich und brutal gegen Kritiker, Homosexuelle und alle vorzugehen, die sich gegen die allgegenwärtige Korruption wenden.

Kritiker wie Buhlel hoffen, dass die geringe Wahlbeteiligung von 27 Prozent die Chance bietet, die Verfassung zu reformieren. Doch das Referendum zeigt, wie stark die gesellschaftliche Spaltung auch elf Jahre nach der Revolution noch ist. In der größten sozialen Krise seit der Unabhängigkeit ist Saied ein Symbol der Unzufriedenen geworden, obwohl die Reform der Wirtschaft in seiner Verfassung mit keinem Wort erwähnt wird.

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