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Gleichgewicht des Schreckens

Im Film »Der perfekte Chef« gibt es nur Charaktermasken

  • Erik Hanzlicek
  • Lesedauer: 4 Min.
Sieht seine Firma als Familie: Julio Blanco (Javier Bardem).
Sieht seine Firma als Familie: Julio Blanco (Javier Bardem).

Am Anfang ist die Waage am Eingang der Fabrik aus dem Gleichgewicht. Und sie wird auch am Ende des neuen Films »Der perfekte Chef« (»El buen patrón«) des spanischen Regisseurs Fernando León De Aranoa nur scheinbar wieder im Gleichgewicht sein. Als ein altes Symbol für Gerechtigkeit ist die Waage seit der Antike in den europäischen Bilderkanon eingeschrieben. Der Eigentümer der Firma, die Industriewaagen herstellt, Julio Blanco (Javier Bardem), versucht nicht nur die Skulptur des Firmenlogos immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen, sondern auch die Verhältnisse in seinem Betrieb. Er versteht sich als Familienoberhaupt (das spanische »patrón« des Originaltitels ist da wesentlich doppeldeutiger als das Wort »Chef« des deutschen Titels) einer nicht-genetischen Abstammungsgemeinschaft. Einer, der sich auch um die privaten Bedürfnisse und Probleme der Angestellten kümmert und sie ernst nimmt, einer, der für alle Seiten des Beschäftigungsverhältnisses das Beste will. Schnell stellt sich allerdings heraus, dass Blanco (auch dieser Name ist vielsagend) keinen authentischen Kern besitzt. Er ist eine Charaktermaske, sein ganzes Verhalten ein Ausdruck seiner Stellung als Kapitalist im Produktionsprozess. Er mag rassistisch und sexistisch sein, mal barmherzig und dann wieder gewalttätig handeln: Nie ist da eine Wesenheit eines Individuums zu sehen. Blanco ist leer, erst seine Funktion als Eigentümer von Produktionsmitteln lässt ihn handeln, wie er handelt und dementsprechend fühlen. Blanco ist ein »Fanatiker der Verwertung des Werts« (Karl Marx) und De Aranoa lässt daran in seiner Inszenierung keinen Zweifel aufkommen. Es gibt keine Szene, die im »Privaten« stattfindet, dem Raum, in dem in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuelle, das Emotionale, das Echte sich zeigen soll.

Blanco agiert in der Produktionsstätte oder an Orten der Zirkulation (Supermarkt, Boutique seiner Frau, Bordell). Die eigene Villa wird nur von außen einmal kurz gezeigt. Von innen bekommen wir nur das Trophäen- und Esszimmer zu Gesicht. Nichts hier deutet auf ein kohärentes, gelebtes Leben hin. Blanco selbst rückt sich seine Vergangenheit immer wieder zurecht. Beim abendlichen Dinner mit einer befreundeten Industriellenfamilie versichern sich etwa die beiden Patriarchen, dass man sich doch alles selbst aufgebaut habe und die Jugend von heute nicht mehr durchsetzungsfähig genug sei. Blancos Frau weist lakonisch daraufhin, dass sie beide doch ihre Unternehmen geerbt hätten, doch man lacht diese einfache und doch so wichtige Einsicht weg und ergeht sich weiter in hohlen Phrasen bürgerlicher Ideologie, die immer nur rückwirkende Legitimation für die eigene Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie und diese Hierarchie selbst sind. Auch sein Verhältnis zu den Arbeiterinnen und Arbeitern sowie die vorgebliche gemeinsame Geschichte hat sich Blanco für sich passend zurechtgerückt.

Generell teilen die Angestellten des Unternehmens Blanco Waagen die Vorstellungen ihres Chefs vom harmonischen Familienunternehmen, in dem alle erhalten, was sie verdienen, nicht in letzter Konsequenz. Doch De Aranoa macht nicht den Fehler, den »bösen Kapitalisten gegen die «guten» Proletarier zu positionieren. Auch letztere sind Charaktermasken, die ihr Möglichstes tun, um in der unternehmensinternen Konkurrenz nach oben zu kommen. Dabei verstehen sie aber immerhin noch, dass die Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem beziehungsweise Geschäftlichem ihren Interessen zuwiderläuft, auch wenn diese Interessen ganz innerhalb der Konkurrenzlogik verhaftet bleiben. Kollektive Anstrengungen der Belegschaft gibt es hier nicht. Es gibt hier kein Gut und Böse, keine wirkliche Auflösung der Probleme. Gut und Böse sind moralische Kategorien, die im kapitalistischen Produktionsprozess generell keine Bedeutung haben. Seine Existenzweise als Unternehmer bringt die Probleme, die Blanco mehr schlecht als recht versucht zu lösen, strukturell hervor. Zu Beginn und zum Ende steht die Gewalt, die trotz des stillen Zwangs der Verhältnisse immer wieder ganz konkret ausgeübt werden muss. Justitia trägt nicht nur die Waage, sondern auch das Schwert.

Dies alles ist in kühlen Bildern inszeniert, Bardem passt perfekt in die Hauptrolle des Blancos. Er, der gerne in Hollywood für die Psychopathen oder zumindest die Bösewichte gecastet wird, kann hier zeigen, dass uns erst die Zweite Natur zu opportunistischen Amoralisten macht. So wäre «Ein guter Chef» ein fantastischer Film geworden, wenn er nicht ironischerweise hin und wieder selbst das Gleichgewicht verlieren würde. Sozialdrama? Komödie? Satire? Immer wieder verliert sich der Film ein wenig im Genrewechsel und wirkt damit nicht ganz konsistent. Aber vielleicht passt das auch wieder zum Thema. Dennoch ist De Aranoa eine großartige (Nicht-)Charakterstudie gelungen, die starke Bilder für die Unmöglichkeit von Gerechtigkeit in der kapitalistischen Produktionsweise, Klassenantagonismen und die Dysfunktionalität persönlicher Beziehungen findet, ohne ein plumpes Lehrstück zu sein.

«Der perfekte Chef», Spanien 2021. Regie und Drehbuch: Fernando León De Aranoa. Mit: Javier Bardem, Manolo Solo, Almudena Amo. 120 Minuten. Jetzt im Kino.

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