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Anatomie einer Weltmacht
Früher schmähten antiimperialistische Demo-Parolen die Vereinigten Staaten von Amerika, heute hört man auch aus der Linken Forderungen nach US-Militärhilfe. Aber wie sieht es eigentlich im Innern des Landes aus? Teil I einer Reihe zum »Waffenland USA«
Es ist der fünfte Monat des Kriegs in der Ukraine, und die westlichen Waffenlieferungen an den vom Nachbarn Russland überfallenen Staat sind in vollem Gange. Federführend in dieser Militärhilfe sind die Vereinigten Staaten von Amerika, ihres Zeichens Nato-Anführerin und Weltmacht. Weit über die Hälfte der bislang an die Ukraine gelieferten Tötungsmaschinerie kommt aus US-amerikanischer Produktion, bis Juni 2022 waren das konservativ geschätzt 1000 Artilleriegeschütze, 300 Raketensysteme, 500 Panzer, hunderttausende Runden Munition, zugesagt sind die Lieferungen von Hubschraubern, gepanzerten Fahrzeugen, 1400 Flugabwehrsystemen, 5000 Raketen zur Panzerabwehr und mehreren tausend Gewehren inklusive Munition.
Obwohl die Ukraine nicht Mitglied der Nato ist, behandelt »der Westen« den »ukrainischen Freiheitskampf« (Der Spiegel) als ureigenes Anliegen. Die Gründe für eine derartige Zusammenarbeit konkurrierender Staaten müssen an anderer Stelle diskutiert werden; fest steht aber: Wer diese Zusammenarbeit fordert, die ja beide Seiten stärkt, sollte auch die Verteidigungswürdigkeit dieser Staaten einer Prüfung unterziehen. Ist solches Vertrauen in die »westlichen« Gesellschaften eigentlich berechtigt? Um etwas Licht ins Dunkel dieser Frage zu bringen, soll in einer Artikelreihe einmal ein genauer Blick auf die Gesellschaft der USA geworfen werden, und zwar mit besonderem Fokus auf die Frage, welche Rolle Waffen eigentlich im Inneren des global größten Waffen-Exporteurs spielen.
Weltmarktführer im Waffen-Business
Hierfür zunächst ein kleiner Überblick zum derzeitigen Stand der Dinge. Die Führungsrolle der USA in puncto Waffenlieferungen an die Ukraine entspricht nicht nur ihrer Rolle in der Nato, sondern auch dem US-Anteil am Weltmarkt. Zwischen 2017 und 2021 entfielen nicht weniger als »39 Prozent der großen Waffenlieferungen weltweit auf die USA, mehr als doppelt so viel wie Russland und fast zehnmal so viel wie China« (New York Times). Russland ist also nicht nur Gegner der USA im gegenwärtigen Ukrainekrieg, sondern auch deren größter Konkurrent im Waffengeschäft. Ihre Führungsposition auf dem Weltmarkt in Sachen Tötungsmaschinerie haben die USA in den letzten fünf Jahren noch ausbauen können, auch wenn die Waffenexporte seit dem Antritt der Biden-Administration rein zahlenmäßig um 31 Prozent »abgestürzt« sind. Allein im Jahr 2021 exportierten die USA Waffen im Wert von 138 Milliarden Dollar ins Ausland.
Donald Trump hatte den Waffenverkauf während seiner Amtszeit als US-Präsident ordentlich angeheizt. Die Behauptung, dass durch ein florierendes Waffengeschäft Arbeitsplätze entstehen oder gehalten werden, passt gut in die ultra-nationalistische MAGA-Propaganda. Aber dass es von Vorteil für den Standort USA ist, wenn möglichst viele Waffen von US-Konzernen verkauft werden, ist keineswegs Trumps Erfindung, sondern schlicht Staatsräson. Die wichtigsten Waffenimporteure sind vor allem Staaten des Nahen Ostens, deren Rolle für die US-Binnenökonomie die Dale Carnegie Foundation folgendermaßen beschreibt: »In der Vergangenheit haben MENA-Staaten oft teure US-Waffen gekauft, um zu verhindern, dass amerikanische Fließbänder austrocknen. Diese hochpreisigen Artikel blieben im Allgemeinen ungenutzt. … Aber während neu ermutigte Länder wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Militärs einsetzen, fordern sie hochmoderne Flugzeuge und relativ einfache Bomben, die nur wenige amerikanische Arbeitsplätze schaffen.« Hier zeigt sich übrigens, dass Lohnabhängige keinesfalls automatisch von Wachstum und Profit der Unternehmen profitieren; aber auch darum kann es an dieser Stelle nicht gehen.
Heimisches Waffengeschäft
Für die heimischen Rüstungskonzerne ist selbstverständlich auch der gigantische Binnenmarkt der USA von großer Bedeutung. Und auch hier verzeichnen die Waffenkonzerne seit Jahren massive Gewinnsteigerungen: »Amerikaner kauften im vergangenen Jahr etwa 19,9 Millionen Schusswaffen«, was 2021 zum »zweitgeschäftigsten Jahr der Branche seit Beginn der Aufzeichnungen« macht (Forbes 2022). Leistet die Partei der Republikaner, die sich für immer liberalere Waffengesetze einsetzt, also lediglich ihren Beitrag zum notwendigen Wachstum dieses Kapitalsegments? Jedenfalls verzeichnet sie hier große Erfolge: Zuletzt kippte der rechtskonservative Supreme Court in einem weiteren historischen Urteil (nach der Abschaffung des Rechtes auf Abtreibungen) solche Gesetze, die das versteckte Tragen einer Waffe verbieten. Und die rassistische und antikommunistische Hetz- und Angstpropaganda der republikanischen Partei und ihrer medialen Vertreter*innen ist definitiv geeignet, weiße Bevölkerungsteile zu weiteren Waffenkäufen anzustiften.
Während sich Demokraten und Republikaner auf die Bewilligung eines »700-Millionen-Dollar-Waffenpakets, das aus einem 40-Milliarden-Dollar-Fonds … bezahlt werden soll« (Aljazeera) im Mai 2022 ohne weiteres einigen konnten, sind die beiden einzigen US-Parlamentsparteien in innenpolitischen Angelegenheiten scheinbar bis aufs Messer zerstritten. Das gilt nicht nur in Hinblick auf Themen wie Abtreibung und Bürgerrechte, sondern auch für den Umgang mit Waffen – soweit er eben das Innere der USA betrifft. Hier befürworten die Demokraten restriktive Gesetzgebungen, während die Republikaner von der Parteiführung bis zu großen Teilen der Basis das verfassungsmäßig garantierte Recht auf individuellen Waffenbesitz als absoluten Grundstein ihrer Identität hüten: einer Identität, die mittlerweile häufig als Christlicher Nationalismus bezeichnet wird. Diese Ideologie propagiert eine rassistische und patriarchal-autoritäre, tendenziell marktliberale kapitalistische Ordnung und ihre christlich-fundamentalistischen Vertreter*innen besetzen, obwohl sie gesamtgesellschaftlich in der Minderheit sind, nahezu eine kritische Masse der Herrschaftspositionen in Gerichten und Parlamenten.
Dass Waffen auch im Inneren der Nato-Führungsmacht eine überaus bedeutende Rolle spielen, erfährt die geneigte Leserin bereits durch den oberflächlichsten Blick in die Nachrichten. In den vergangenen Jahren drängen sich hier zwei Phänomene in den Vordergrund: Zum einen die alltägliche rassistische Polizeigewalt, die trotz der massiven George-Floyd-Proteste im Sommer 2020 unverändert stattfindet; zum anderen die nahezu täglichen Massenerschießungen, ausgeführt fast ausschließlich von weißen Männern. Zumal letztere Monstrosität, die faktisch nichts anderes ist als Rechtsterrorismus, von einer militanten rechten Bewegung mit besten Beziehungen in die republikanische Partei sowie einer einflussreichen Waffenlobby flankiert wird.
Vor diesem Hintergrund betrachtet entsteht ein eher düsteres Bild der USA: eine Gesellschaft mit massiven sozio-ökonomischen Konflikten, vielfach verhandelt in rassistischen, patriarchalen, ultra-religiösen Kategorien und ausgetragen durch staatliche und private Waffengewalt unter wachsendem Einfluss einer weißen, proto-faschistischen Bewegung (von den jetzt schon landesweit verheerenden Folgen des Klimawandels ganz zu schweigen). Hiermit ist keinesfalls alles über die US-Gesellschaft gesagt; auch progressive Entwicklungen sind hier zu verzeichnen, seit 2021 etwa ein deutlicher Anstieg gewerkschaftlicher Organisierung. Dennoch haben die gesellschaftlichen Verwerfungen eine Dimension, für die mittlerweile auch Mainstream-Journalist*innen mitunter das Wort Kriegszustand verwenden. Dazu einige weitere Fakten: Mehr als eine halbe Million Menschen in den USA sind derzeit wohnungslos (mehrheitlich Männer), das Land hat eine der höchsten Suizidraten unter den Industriestaaten (mehrheitlich weiße Männer, die sich mit Schusswaffen töten), eine knappe Million Tote durch Drogen-Überdosis seit 1999 (mehrheitlich Männer), 1000 Tote pro Jahr durch Polizeigewalt (mehrheitlich Männer), das größte Gefängnissystem der Welt mit sage und schreibe 2,3 Millionen Gefangenen.
Zynische Rechnungen
40 Millionen Menschen in den USA leben unterhalb der Armutsgrenze, womit die Armutsquote des reichsten Staates der Erde bei satten 14,4 Prozent liegt (Amnesty International). Derweil ist der US-Maßstab für die Berechnung von Armut noch niedrig angesetzt. In Deutschland wird der – letztlich willkürlichen – Berechnung der Armutsgrenze das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied zugrundegelegt. Das ergibt eine Armutsgrenze von weniger als 14 000 Euro pro Person/Jahr. Schon das ist viel zu wenig zum Leben, aber in den USA sollen die Armen den Gürtel noch viel enger schnallen. Hier ist die Armutsgrenze auf ein Familieneinkommen von unter 23 050 Dollar festgesetzt, das sind unglaubliche 5800 Dollar – pro Person im Jahr! Überproportional betroffen von Armut sind in den USA nicht-weiße Menschen, aber in einer (noch) mehrheitlich weißen Bevölkerung auch Millionen Weiße.
Weiße Menschen stellen aber auch die große Mehrheit der sogenannten Mittelschicht, deren Einkommen seit vielen Jahren sinkt. Auf der Rechten bilden weiße Mittelschichtsmilieus den wichtigsten geschlossenen Wählerblock, die evangelikalen ChristInnen – deren größtes Anliegen verschiedenen Studien zufolge nicht das Verbot von Abtreibungen ist, sondern Gesundheitsversorgung, Ökonomie und »nationale Sicherheit«. Weiterhin stellen rechtskonservative, zumeist republikanisch wählende Milieus nicht nur einen überdurchschnittlich großen Teil des US-amerikanischen Militärs, sondern scheinen außerdem viele der (fast immer weißen und männlichen) Täter der Massenerschiessungen hervorzubringen. Zwischen beidem besteht offenbar ein Zusammenhang: Massenschützen sind »überproportional Militärveteranen. Einige Massenschützen, die keine Veteranen sind, geben vor, beim Militär zu sein und/oder verwenden Militärwaffen« (Pressenza 2020).
Mit der Verquickung von Zugang zu Waffen, patriarchal-rassistischer Ideologie und Militarismus im Phänomen der Massenerschießungen, die sich hier andeutet, wird sich der dritte Teil von »Waffenland USA« im Detail beschäftigen. Im kommenden, zweiten Teil der Reihe geht es zunächst noch einmal um die Organisierung der Rüstungsproduktion in den USA: den »Militärisch-industriellen Komplex«.
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