Weniger Lebensgefahr im Verkehr

Mahnwachen für Unfallopfer zeigen die Dringlichkeit der Verkehrswende

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.
An die getötete Seniorin erinnert nun am Bahnhof Hermsdorf temporär eine weiße Silhouette.
An die getötete Seniorin erinnert nun am Bahnhof Hermsdorf temporär eine weiße Silhouette.

„Eines unserer ganz wichtigen Anliegen ist es, deutlich zu machen: Die Opfer trifft in der Regel kein eigenes Verschulden. Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort„, sagt Heiner von Marschall. Der Berliner Landesvorsitzende des ökologisch orientierten Verkehrsclubs VCD sagt das am Samstagnachmittag auf dem östlichen Vorplatz des S-Bahnhofs Hermsdorf in Berlin-Reinickendorf bei einer Mahnwache für eine getötete Fußgängerin.

Am Freitagnachmittag drei Wochen zuvor wurde hier eine 73-Jährige Opfer eines Verkehrsunfalls. Sie saß auf einer Bank an der Bushaltestelle, auf die plötzlich ein Auto zugeschossen kam. Die 83-Jährige Fahrerin hatte „aus bislang ungeklärter Ursache», wie es im Polizeibericht heißt, die Kontrolle über ihr Auto verloren. Sie wurde eingeklemmt und kam mit schweren Verletzungen in eine Klinik. Sie erlag diesen am Dienstag darauf. Auch die Fahrerin kam ins Krankenhaus.

„Man kann sich vorstellen, mit welcher Wucht das Auto hier hineingekracht sein muss», sagt Heiner von Marschall und weist auf die teilweise zerstörte Mauer des Hochbeets, vor dem die Bank stand. Die Trümmer liegen noch an Ort und Stelle. Die Überreste der Bank wurden abtransportiert. Zu sehen sind auch noch die gelben Sprühkreidestriche, mit denen die Polizei bei der Unfallaufnahme jene Stellen markiert hatte, an denen das Auto auf den Bürgersteig fuhr und wo es letztlich zum Halten kam.

Es kam „völlig unverhofft für diejenigen, die hier ganz friedlich auf einer Bank saßen und warteten. Gott sei Dank konnte wenigstens die 17-Jährige rechtzeitig zur Seite springen», sagt von Marschall. Die Seniorin saß nicht allein auf der Bank. „Es kann wirklich jede und jeden von uns treffen», so der Aktivist. Allerdings, sagt er zu „nd»: „Besonders gefährdet sind Kinder und Senior*innen, weil sie nicht immer so aufmerksam sind oder nicht so schnell reagieren können.»

„Was wir möchten, auch mit diesen Mahnwachen: aufrütteln, dass wir es nicht weiter hinnehmen wollen, dass es geradezu selbstverständlich erscheint, wenn jedes Jahr etwa 40 Menschen im Berliner Straßenverkehr zu Tode kommen», sagt von Marschall. „Ganz zu schweigen von den unzähligen Schwerverletzten.»

Neben dem VCD beteiligen sich auch der Fahrradclub ADFC, der Verkehrswendeverein Changing Cities sowie der Fachverband Fußverkehr an den Mahnwachen. Immerhin etwas über ein Dutzend Menschen haben sich in der Hochphase der Urlaubszeit am Stadtrand eingefunden. Zu anderen Zeiten, an zentraleren Orten sind es auch mal Hunderte, die sich für die schweigend verbrachten Gedenkminuten auf die Straße setzen.

„Wir möchten, dass sich an unserem Verkehrssystem etwas ändert», sagt Heiner von Marschall. Nicht nur aus den Gründen, die alle kennen, wie Klimawandel, zu wenig Platz, Flächengerechtigkeit, schönere Städte. „Es geht vor allem um die Vision Zero: keine Toten und keine Schwerverletzten mehr im Straßenverkehr.» Die Opfer seien meist ungeschützte Verkehrsteilnehmer*innen, also zu Fuß Gehende oder Radfahrende – und „das Gerät, an dem sie sterben, ist fast immer ein Auto».

Konkret mit den Mahnwachen verknüpft sind die Forderung nach einer Ombudsperson, die die Opfer von Unfällen oder deren Hinterbliebene bei den administrativen Verfahren im Nachgang unterstützt, sowie die Möglichkeit eines dauerhaften Gedenkens an der Unfallstelle. „Bisher ist dies nicht erlaubt. Mit der Begründung, das würde nur ablenken und würde es daher gefährlicher machen», schildert von Marschall die Lage.

Die „Vision Zero», also das Ziel von null Verkehrstoten und Schwerverletzten, ist auch im vor etwas über vier Jahren verabschiedeten Berliner Mobilitätsgesetz verankert. „Die ›Vision Zero‹ ist die zentrale Orientierung der Berliner Verkehrspolitik», heißt es auf der Internetseite der Senatsmobilitätsverwaltung.

Als bisher letztes Kapitel des Mobilitätsgesetzes hat das Abgeordnetenhaus jenes zum Thema Fußverkehr verabschiedet. Dieser Tage legte die Mobilitätssenatsverwaltung die Struktur für den bis zum ersten Quartal 2024 zu schaffenden Berliner Fußverkehrsplan vor. »Die Berlinerinnen und Berliner legen zu Fuß mehr Wege zurück als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Wir möchten daher, dass sich die Planung künftig noch stärker mit dem Fußverkehr beschäftigt als bisher», erklärte Mobilitäts-Staatssekretärin Meike Niedbal (Grüne) dazu.

Fußwege seien definiert „als geschützte Räume auch und gerade für die schwächsten Verkehrsteilnehmenden», heißt es in dem vom Planungsbüro LK Argus erarbeiteten Strukturkonzept, das auch Hinweise zur möglichen Umsetzung des Fußverkehrsplans anhand von einzelnen ausgearbeiteten Beispielen gibt. Im Gegensatz zu den anderen Einzelplänen für den Bahn- und Busverkehr und den Fahrradverkehr soll wegen der Kleinräumigkeit der Fußwege nicht von einem stadtweiten Netz heruntergeplant werden, vielmehr sollen die Bezirke mit Unterstützung der Mobilitätsverwaltung zunächst Pläne auf Kiezebene erarbeiten, die schließlich zu einem stadtweiten Netz zusammengeführt werden.

Als „essenzielle Ziele» für die Bildung eines Wegenetzes sollen laut dem Papier Haltepunkte von Bahnen und Bussen, „Bildungs- und Erziehungseinrichtungen als wichtige Orte für besonders schutzbedürftige Nutzendengruppen», Einkaufs- und Dienstleistungseinrichtungen sowie Grünanlagen dienen. Je mehr dieser Wege sich überlagern, desto höher die Priorität.

LK Argus hat den Prozess in mehreren Kiezen beispielhaft durchgearbeitet. „Im vorletzten Schritt erfolgt eine planerische Prüfung des abgeleiteten Vorrangnetzes auf weitere sinnvolle Quellen und Ziele, sinnvolle Lückenschlüsse und Netzergänzungen», heißt es im Konzept. In diesem Fall wurde noch eine direkte Verbindung eines Klinikums mit einer nahe gelegenen Bushaltestelle in dieses Vorrangnetz für den Fußverkehr aufgenommen.

Eines der meistgenutzten Worte in dem Strukturpapier lautet „komplex». Aufgrund der Berliner Erfahrungen scheint es zweifelhaft, dass dieses ambitionierte Werk bereits in weniger als zwei Jahren vorliegen wird. Der wesentlich überschaubarere Radverkehrsplan liegt bisher nur als Entwurf vor, obwohl er schon längst hätte fertig sein sollen.

Vielleicht hilft für die Belange der zu Fuß Gehenden der Blick nach London. Die dortige Verkehrsbehörde Transport for London (TfL) hat kürzlich ein sehr positives Fazit eines Versuchs gezogen. Die Fußwegampeln an 18 schwach befahrenen Straßenquerungen sind im Mai 2021 so programmiert worden, dass sie grundsätzlich Grün für Passanten zeigen. Nur bei Annäherung eines Fahrzeugs springen sie auf Rot.

Durchschnittlich 56 Minuten pro Tag mehr Grünzeit für den Fußverkehr ergaben sich laut TfL so pro Ampel. Die Akzeptanz der Lichtsignale stieg um 13 Prozent, was in London, wo notorisch bei Rot gegangen wird, ein Erfolg ist. Der Einfluss auf den motorisierten Verkehr war kaum messbar. Busse standen maximal neun Sekunden länger, an einigen Kreuzungen reduzierten sich sogar Wartezeiten.

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