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- Atomwaffendivision Hessen
Traum vom gewaltsamen Umsturz
Angeklagter schien mordbereit für »Rassen- und Bürgerkrieg« um die »weiße Vorherrschaft« in der Welt
Was man sieht und was man hört, ist schwer in Einklang zu bringen an diesem Morgen. Der Mann, der am Dienstag in Handschellen in den Saal II des Gerichtsgebäudes in Frankfurt am Main geführt wird, ist ein Hänfling. Klein, unscheinbar, mit strubbeligem Blondhaar und viel jünger aussehend als der 20-Jährige, der er ist. Doch er soll bereit gewesen sein zu morden, um einen »Rassen- und Bürgerkrieg« zu entfachen, für eine »weiße Vorherrschaft« in der Welt. So steht es in der Anklage, die Oberstaatsanwalt Michael Neuhaus beim Prozessauftakt im Oberlandesgericht vorträgt.
Die Bundesanwaltschaft hält Marvin E. für einen rechten Terroristen. Sie hat den Tischlerauszubildenden aus dem nordhessischen Spangenberg wegen der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung, wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie wegen Verstößen gegen das Waffen- und das Sprengstoffgesetz angeklagt. Der Mann, der bei der hessischen Kommunalwahl im Frühjahr 2021 noch auf der Liste der örtlichen CDU angetreten war, habe mindestens 15 große Sprengkörper gebaut, zum Teil mit Stahlkugeln ummantelt und mit einer Sprengkraft, die »nur knapp hinter militärischen Sprengsätzen zurückbleibt«, wie der Oberstaatsanwalt sagt. »Er hatte vor, diese Sprengsätze für Anschläge im Sinne der AWD-Ideologie einzusetzen.«
Drohbriefe an Politiker
AWD steht für »Atomwaffendivision«, eine der militantesten Organisationen des weltweiten Rechtsextremismus. Sie ist rassistisch, antisemitisch, nationalsozialistisch und mit offenem Bekenntnis zum Terror. In den USA, wo die AWD im Jahr 2015 gegründet wurde, mittlerweile aber offiziell aufgelöst ist, werden ihren Mitgliedern mehrere Morde zur Last gelegt. In Deutschland gibt es keine feste Organisation, in den vergangenen Jahren aber haben sich immer wieder einzelne Neonazis zu der Terrortruppe bekannt. Das AWD-Logo mit dem Radioaktivitätssymbol tauchte auf Flugblättern in Frankfurt, Berlin und in der Kölner Keupstraße auf, Morddrohungen gegen den heutigen Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) waren mit »Atomwaffendivision« unterzeichnet.
Der Angeklagte soll sogar versucht haben, so etwas wie einen hessischen Landesverband zu gründen. »Er sah sich selbst als der Anführer«, heißt es in der Anklage. Gezielt habe Marvin E. über das Internet nach Menschen gesucht, die Erfahrung mit Sprengstoff und Waffen haben sollten. Er habe zuerst Freundschaften knüpfen und dann allmählich die AWD-Ideologie einfließen lassen wollen, so soll er es selbst notiert haben. Allerdings ging der Plan offenbar nicht: Nur ein ehemaliger Mitschüler soll nach dem Austausch von Propagandavideos und Hitler-Bildern schließlich per Chat einer Mitgliedschaft in der »Atomwaffendivision Hessen« zugestimmt haben. Ansonsten seien die Rekrutierungsbemühungen erfolglos geblieben.
Gleichwohl gelang es Marvin E. laut Anklage, für eine Propagandaaktion in Kassel fünf Gleichgesinnte zu finden. Wer das war, ist nicht bekannt: Zwei Tage vor der Aktion im September 2021 wurde der Angeklagte festgenommen, das geplante Plakatieren fiel aus.
Durch einen Hinweis des Verfassungsschutzes soll die Polizei dem Mann, der bis dahin völlig unauffällig war, auf die Spur gekommen sein. Allzu konspirativ ist er, wenn man den Angaben der Bundesanwaltschaft glaubt, bei seiner Terrorplanung allerdings auch nicht vorgegangen: Schwefel und Magnesium, Zündschnüre und Stahlkugeln für seine Sprengsätze bestellte er demnach einfach bei Amazon. Bei Instagram und bei Messenger-Diensten wie Telegram trat er als »AWD Hessen« auf.
Rechtsradikales Manifest
Wie die rechtsterroristischen Attentäter von Halle und Hanau, von Christchurch und Utøya soll Marvin E. eine Art Manifest verfasst haben, mit einem unmissverständlichen Programm, wie Oberstaatsanwalt Neuhaus sagt: »Migranten sowie Juden sollten aus dem Lebensraum der weißen ›Rasse‹ vertrieben und dezimiert werden.« Innerhalb von drei Jahren habe der Angeklagte durch Mordanschläge einen »Rassenkrieg« entfesseln und die staatliche Ordnung destabilisieren wollen. Ein ganzes Reservoir an Granaten, Bomben, Minen, Schusswaffen und Munition habe er dafür anlegen wollen – und im Internet unter anderem nach dem Grundriss des Bundestags gesucht. Es war ein Traum vom rechten Umsturz.
Joachim F. Tornau für »nd« berichtete auch vom Prozess gegen Franco A. und den Prozess um den Lübcke-Mord
Beim Prozessauftakt hört sich Marvin E. das mit einer schwer zu entschlüsselnden Miene an. Er scheint leise zu lächeln, aber ob aus Unsicherheit oder Zufriedenheit, lässt sich nicht sagen. Er wolle sich äußern, kündigt seine Verteidigung an, aber erst vom nächsten Termin an. Für den Prozess sind zunächst 13 Verhandlungstage bis Anfang November angesetzt.
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